Hadern mit dem Nichts
Das Theaterstück „Niemand“, in dem immer wieder „Stille“oder gar „tiefe Stille“vorkommt, wird als Sensation angepriesen.
In Wien bahnt sich ein theatergeschichtlicher Paukenschlag an: Ein Stück Ödön von Horváths wird fast hundert Jahre nach seinem Entstehen im Josefstädter Theater uraufgeführt. Den darin auftretenden Hausbesitzer und Pfandleiher namens Fürchtegott Lehmann spielt Florian Teichtmeister.
Der kommt – vor einer Probe – so eloquent sprudelnd zum Interview, dass er gleich vor der ersten Frage zu reden beginnt. Offenbar begeistert ihn dieses Werk, das Horváth um einen Niemand kreisen lässt. Florian Teichtmeister: Horváth hat das Stück erstaunlich genau geschrieben, mit präzisen und scharfen Schnitten, mit vielen Anweisungen. Das liest sich zum Teil wie ein Drehbuch. SN: Schreibt er, wie Samuel Beckett, „Pause“in die Texte? Horváth schreibt „Stille“, fast wie bei Beckett, manchmal schreibt er sogar „tiefe Stille“. SN: Wie spielt man tiefe Stille? Man muss die Stille einfach zulassen, das ist ohnehin schwierig genug. Und wenn man sich einlässt auf den Moment, der da entsteht, dann wird die Stille tief. SN: Aber was spielen Sie da? Ich spiele nichts. Ich denke, ich bin. Das ist ja die Herausforderung, sich nicht aus Angst vor der Leere in Spielereien zu flüchten. Der Geist des Zuschauers kann aus einer Stille wahrscheinlich mehr machen, als es mir mit schauspielerischen Mitteln möglich wäre. So eine Horváth’sche Stille ist ja oft die Folge einer absoluten Wortlosigkeit – ein Moment, in dem es nichts mehr zu verhandeln und zu bereden gibt. Da hat das Spiel keinen Platz mehr. SN: Wer ist der titelgebende Niemand? Wo steckt der? Überall! Auf „Wer ist schuld?“heißt es: Niemand. Wer hat den Bierkrug zerbrochen? Niemand. Wer ist schuld, dass Lehmann ein Krüppel ist? Wer ist schuld, dass der Geiger aus dem vierten Stock seine Miete nicht bezahlen kann? Dass die junge Frau vom Erdgeschoß auf den Strich gehen muss?
Seit ich mich mit „Niemand“beschäftige, fällt mir auf, wie oft wir alle im Alltag die Sachen auf niemanden schieben. Wer ist schuld, dass ein geliebter Mensch überfah- ren wird? Wer ist schuld am Krieg? Niemand ist die Personifizierung dessen, der nicht da ist, der nichts ist. Lehmann hadert damit und folglich mit seinem Schicksal. Er heißt nicht umsonst Fürchtegott. SN: Schuld steckt doch in einzelnen Menschen. Für meine Figur, den Lehmann, ist der einzig gangbare Weg, die Schuld nach außen zu verlagern. Er glaubt, etwas über eine Macht verstanden zu haben, die man ihm bisher immer als gut dargestellt hat.
Er erzählt, man habe ihm als Kind das „Märchen vom lieben Gott“erzählt, „der weint über unser Leid, nur manchmal soll er auch lächeln über unsere Dummheit“. Lehmann erkennt: Es ist eine Lüge, dass Gott auf uns aufpasst. Er versucht sich von dem Gott loszusagen, unter dem er erzogen worden ist. Er sagt: „Ich habe Gott lachen hören! Und wer so lachen kann, der kann nicht weinen!“
Dass er nicht mehr gehen kann, ist kein Pech. Es ist auch nicht seine Schuld. Es ist eine Gemeinheit von dem da oben! Der macht uns zu Krüppeln, zu Spielbällen, der lässt uns wie Versuchstiere im Labor übereinander herfallen. Für Lehmann wird Gott erst zur Projektionsfläche des Schlechten, des Pechs, des Schicksals. Dann glaubt er zu erkennen: Der ist ja nicht da. Der ist niemand. SN: Wer ist dieser Fürchtegott Lehmann – außer ein Ungustl? Dass er ein Ungustl ist, erfährt man nur von den anderen! Fürchtegott Lehmann ist der Erbe eines Pfandleihhauses und des Zinshauses, in dem dieses Pfandleihhaus im ersten Stock liegt. Das heißt: Er ist Hausbesitzer, er ist Kapitalist. Des Weiteren hat er eine körperliche Beeinträchtigung, die man heute mit Polio beschreiben müsste. Horváth macht es nie medizinisch eindeutig. Lehmann muss auf Krücken gehen, er kann nicht Stiegen steigen – so ist er im ersten Stock seines Hauses quasi eingesperrt. Er muss Menschen bezahlen, ihn hinauf- und hinunterzutragen. Er ist also abhängig, wenngleich bei ausreichend finanziellen Mitteln. Er ist alleinstehend. Und man mag ihn nicht. SN: Er ist offenbar gierig, ungnädig und schädigt angeblich andere, weil er schlecht zahlt. „Angeblich“ist gut! Entweder ist es die Wahrheit, oder die anderen sagen nicht die Wahrheit. Jemand sagt, dieser Pfandleiher habe ihn übers Ohr gehauen, nur weil er sich einen Preis vorstellt, der höher als der Marktwert ist. Da wollte einer einen goldenen Ring versetzen, der aber gar nicht aus Gold ist. Wer ist da der Betrüger? Wer ist gemein? SN: Ihr Lehmann wird also sympathisch? Nein, es geht nicht um Sympathie. Es geht um Geradlinigkeit. Ich delogiere den Musiker vom vierten Stock, der die Miete nicht zahlt. Den schmeiß ich hinaus! Ist das bösartig? Oder einfach konsequent?
Wer nicht zahlt, muss raus! Er ist ja nicht die Heilsarmee, ihm hilft auch keiner. Er mag kalt wirken. Aber als Anwalt der Figur sagte ich bloß: Er handelt folgerichtig. SN: Handelt er jemals gut? Wir sehen, dass er dem Geiger (trotz anstehender Delogierung) anbietet, eine Woche umsonst zu wohnen. Aber der sagt, er könne nur wohnen, wenn er zahle. Lehmann zahlt einmal die Schulden der Kellnerin. Aber der nützt das nichts, sie wird trotzdem gefeuert. Alles wird ihm drübergehaut, alle sagen, er sei gemein. Nicht einmal die Prostituierte behandelt ihn fair. Sie nimmt bloß sein Geld, lässt ihn stürzen und verletzt liegen. Es gibt keine Nähe. Es gibt keine Gerechtigkeit. Das ist die Tragödie dieses Eingesperrten. SN: Aber er findet doch Liebe, er heiratet sogar. Liebe? Na ja, da prallen zwei Menschen aufeinander, die Sehnsüchte haben – Ursula und Lehmann. Sie ist knapp davor, ihren Körper zu verkaufen, um nicht zu verhungern. Und er hat keinen Menschen. Mit den beiden ist es so, wie Rilke gesagt hat: Die Liebe besteht darin, dass zwei Einsame füreinander da sind. Das wird nie das endgültige Glück, sondern bestenfalls die Schicksalsgemeinschaft von zwei Einsamen. SN: Wie ist dieses Stück des gut 20-jährigen Autors? Dieses frühe Werk Horváths hat eine expressionistische, dampfende, unter dem Eindruck von Kleist und Shakespeare stehende geheimnisvolle Kraft. Es gibt übernatürliche Behauptungen – Gespräche mit Gott, Doppelungen von Namen und Schicksalen. Und es ist spannend, welche Topoi in späteren Stücken wiederkommen. SN: Wo steckt die Verwandtschaft zu Kleist und Shakespeare? Wir haben es mit Totengräbern, Handwerkern und einem zerbrochenen Krug zu tun. Lehmann ist ein Krüppel – da kann man an Richard III. denken. Viele Figuren sind schon einmal da gewesen, und Horvath führt diese Personage zusammen – in wirtschaftlicher Not, Vereinsamung und Vereisung. Da hat offenbar ein junger, talentierter Autor viele Eindrücke und große Entwürfe ein bisschen verarbeitet. SN: Welche Topoi aus späteren Stücken sind in „Niemand“? Da gibt es z. B. einen Moment in der Auseinandersetzung von Lehmann mit Gott, wenn er diesen beinahe zu bitten scheint, ihn noch nicht zu holen. Auch in „Geschichten aus dem Wiener Wald“, als der Zauberkönig glaubt, einen Herzinfarkt zu haben, beginnt er das Vaterunser zu beten. Kurz zuvor hat er behauptet, Gott sei böse, es gebe ihn eigentlich nicht. Aber angesichts der größten Angst fallen wir offenbar auf die Knie. Diesen Moment gibt es fast baugleich in „Niemand“und „Wiener Wald“.
Wie in anderen Stücken geht es in „Niemand“um Glaube, Freiheit, existenzielle Not und die Vision eines Auswegs. Mein Lieblingstopos ist Schuld und Sühne. SN: Wie zeigt sich der? Lehmann versucht, sich aus seinem seelischen Gefängnis über Bestrafung zu befreien. Erst wenn eine Strafe vollzogen ist, erscheint ihm alles wieder gut. Auch in „Geschichten aus dem Wiener Wald“kommt das vor: Erst muss das Kind sterben, die Frau muss sich auflösen bis zum Satz „Ich kann nicht mehr“, bis Oskar sagt: „Jetzt kann ich dich nehmen, komm.“Anders gesagt: Wenn du für deine Sünden bezahlt hast, bist du wieder akzeptabel.
Umso schlimmer ist, dass der Lehmann, der sich ständig übervorteilt vorkommt, das mit sich selbst macht. Wenn er eine drüberkriegt, sagt er: Es ist wieder gut. Er nimmt die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit als Sanktion von Gott, die er gutheißt. Er sieht sich all diesen Prüfungen ausgesetzt, weil er mit Gott hadert. Er sagt: „Ich versteh ja die Wahrheit, selbst, wenn sie mich noch so sehr foltert, ich verstehe nur die Gerechtigkeit nicht.“ SN: Wie ließe sich der Teufelskreis durchbrechen? Mit Vernunft? Das ist keine Vernunftfrage! Für solche zutiefst menschliche Vorgänge reicht Vernunft oft nicht aus. Horváth spricht das explizit an: Namen wiederholen sich, auch Schicksale wiederholen sich. Immer spielt der eine die Rolle das anderen weiter.
Wie kann jemand, der eine Kindheit voller Gewalt erlebt hat, als Erwachsener anderes weitergeben? Dieser Fluch, das Nicht-Auskönnen, das Wiederholenmüssen ist ein großer expressionistischer, biblischer Entwurf, den der junge Horváth da auf die Bühne stellt. Vielleicht würde helfen, was Camus sagt: Wir sollten uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.
„Man muss die Stille einfach zulassen.“Florian Teichtmeister, Schauspieler „Schuld und Sühne ist mein Lieblingstopos.“Florian Teichtmeister, Schauspieler
Theater: „Niemand“von Ödön von Horváth, Josefstädter Theater, Premiere am 1. September, 19.30 Uhr.