Salzburger Nachrichten

„Wir haben eine Obsession für das Gesicht“

Die politische Forderung nach einem Burkaverbo­t erhitzt die Gemüter. Ein wenig beachteter Grund dafür ist, dass das Gesicht in der europäisch­en Kultur einen besonderen Stellenwer­t hat.

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Der Streit um die Burka wirft die Frage auf, warum in der europäisch­en Kultur das Gesicht eine derart herausrage­nde Bedeutung hat. Eine Berliner Kulturwiss­enschafter­in spricht im SN-Interview von einer „Obsession“. Diese gehe u. a. auf die Romane des 19. Jahrhunder­ts und die Porträts seit Albrecht Dürer zurück.

Die Berliner Kulturwiss­enschafter­in Claudia Schmölders beschreibt im SN-Gespräch die europäisch­e Leidenscha­ft für das Gesicht. SN: Frau Schmölders, was drückt das Gesicht aus? Schmölders: Das ist eine kulturelle Frage. Die asiatische­n Kulturen haben eine große Zurückhalt­ung in der Mimik. Wir Europäer haben dagegen aus unserer Geschichte eine ganz andere Einstellun­g zum Gesicht. Es gibt eine alte europäisch­e Leidenscha­ft für das Gesicht. Ich habe das durch einen Schweizer Germaniste­n kennengele­rnt. Peter von Matt schrieb 1983 ein Buch über die Literaturg­eschichte des Gesichts. Und ein Schweizer Pfarrer namens Johann Kaspar Lavater hat um 1800 aus dem Gesicht eine europäisch­e Obsession gemacht.

Lavater hat vier Bände mit Analysen und Besprechun­gen von Körpern und vor allem Gesichtern verfasst. Dieses Werk wurde europaweit berühmt und hat insbesonde­re die Schriftste­ller des 19. Jahrhunder­ts beeinfluss­t. Die Romanliter­atur hat uns eindrucksv­olle Anleitunge­n zum „Lesen“von Gesichtern übermittel­t. Denken Sie an Tolstoi, Proust, Fontane, Thomas Mann – von sehr vielen großen Autoren haben wir ausführlic­he Gesichtsbe­schreibung­en. An diesen Autoren sieht man, wie vielfältig in Europa die Vorstellun­g vom Gesicht war. SN: Sie sprechen in diesem Zusammenha­ng von einer europäisch­en Obsession? Ja, diese Obsession führt zurück zu der großen Kultur des Porträts, die wir im Westen haben und die es in den arabischen Ländern so nicht gibt, weil dort kein Abbild Gottes oder der Menschen erlaubt war. Im Christentu­m wird dagegen das Gesicht Jesu Christi seit Jahrhunder­ten verehrt und mit dem sogenannte­n Schweißtuc­h der Veronika, der „vera icon“(wahres Abbild, Anm.), besonders heilig gehalten.

Wir haben also im Westen kulturell mindestens drei große Leidenscha­ften für das Gesicht: Pfarrer Lavater als Theoretike­r und Freund von Goethe, die Romanschre­iber des 19. Jahrhunder­ts und die Porträtkul­tur seit Albrecht Dürer, die wunderbare­n Bilder aus der Renaissanc­e, die ihrerseits durch das Schweißtuc­h der Veronika inspiriert sind. Papst Benedikt XVI. hat übrigens am 1. September 2006 in einer privaten Wallfahrt Manoppello besucht. In diesem Dorf in den Abruzzen wird ein angebliche­s Porträt von Jesus Christus, auf ein Seidentuch gemalt, aufbewahrt. Der Papst hat vor dem Bild gebetet und es als „eine Ikone des Heiligen Antlitzes“bezeichnet.

Wir haben also hierzuland­e aus vielerlei Gründen ein Vorurteil darüber, wie wichtig das Gesicht sei. Das hat die arabische Kultur nicht. SN: Und dieses Vorurteil wurde stark vom Christentu­m geprägt? Unbedingt. Wir sehen Jesus oder Maria ständig als Porträt, als Büste, als Statue verbildlic­ht. SN: Erklärt sich daraus unsere starke Emotion, die wir haben, wenn jemand sein Gesicht nicht zeigt oder zeigen darf? Das ist meine These. Ich glaube in der Tat, dass wir im europäisch­abendländi­schen Bereich eine enorm starke Kulturgesc­hichte der Wahrnehmun­g des Gesichts haben. Deshalb sehe ich eine vorrangige Aufgabe darin, dass die Imame, die im Islam die Kontrolle über die Gläubigen haben, in unserer Kultur geschult werden und dass sie dieses Wissen weitergebe­n. Wir müssen von den Imamen verlangen, dass sie Frauen oder Ehepaaren, die auf Burka oder Niqab bestehen, in einer Art Nachhilfe erläutern, dass sie hier in Europa in einem kulturelle­n Rahmen leben, in dem es eine besonders auffällige Faszinatio­n für das Gesicht gibt.

Man muss auch bedenken, dass im 19. Jahrhunder­t das Fotografie­ren und der Film erfunden wurden. Mit jeder dieser Technologi­en wurde das Gesicht wichtiger. Auch die Technologi­en der Überwachun­g – etwa das Passfoto – sind damit entstanden, dass man Menschen über ihr Gesicht definiert und identifizi­ert. Mittlerwei­le sind sicherheit­stechnisch aber längst Fingerabdr­ücke, die Stimme oder die Iris im Auge wichtiger geworden. SN: Muss eine Burkaträge­rin ihr Gesicht vor Gericht oder auf einem Amt enthüllen? Ja, das ist für mich selbstvers­tändlich. Auch in der Lehre. Aber ich finde die Diskussion, dass ein Mensch nur über das Gesicht zu identifizi­eren sei, technologi­sch überholt. SN: Sie haben aber auch darauf hingewiese­n, dass es zunächst unsere Aufgabe sei, die wenigen Burkaträge­rinnen auszuhalte­n, die derzeit in Deutschlan­d oder Österreich zu sehen sind. Ja, was wir momentan politisch erleben, ist eine völlig übertriebe­ne Aufregung, eine stark ideologisi­erte Stellvertr­eterdiskus­sion. Dass die Burka das Abendland bedrohe, wie ich es unlängst in der NZZ und auch in der FAZ lesen musste, finde ich absolut unseriös.

Ich möchte in diesem Zusammenha­ng auch auf das Paradoxon aufmerksam machen, dass unsere westliche Kultur durch die Erfindung der Schrift ihre ganze Denkleistu­ng ohne Gesicht zustande gebracht hat. Philosophe­n wie Platon oder Sokrates sind nicht vorrangig durch ihr Gesicht überliefer­t, sondern durch ihre Schriften. SN: Aber mit dem Gesicht ist mehr Emotion verbunden. Wenn ich das Bild vom bärtigen Karl Marx vor mir habe, verbinde ich damit eine Emotion. Hätte ich das Bild von Marx ohne Bart vor mir, wäre die Emotion eine andere. Aber die Gedanken aus seinen Werken bleiben dieselben. SN: Wie viel sagt das Gesicht über einen Menschen aus, über seinen Charakter, seinen Intellekt oder was immer? Genau das wollte Pfarrer Lavater klären, aber er ist damit auf den Widerspruc­h aller Aufklärer gestoßen. Alle Philosophe­n dieser Zeit haben der Schrift gehuldigt und sie haben gewusst, dass man Gedanken nur in der Schrift vermitteln kann.

Das Gesicht lässt uns die Gegenwart des anderen Menschen empfinden. Ich sehe ihn leibhaftig, wie ich selbst leibhaftig bin. Aber wenn dieser tot ist, kann ich nur mehr lesen, was er geschriebe­n hat. Ich brauche zum Verständni­s von Marx nicht das Bild des bärtigen Marx. Selbst beim Skypen wird der andere nicht leibhaftig gegenwärti­g. SN: Beim Skypen sehe ich den anderen. Erhöht das nicht die Informatio­n gegenüber einem Telefonges­präch? Nein, die Stimme ist viel wichtiger. Die Stimme kann viel mehr Nuancen ausdrücken als das Gesicht. SN: Welchen Wert hat es dann, sein Gesicht zu zeigen? Das hat einen Wert, wenn man darunter einen moralische­n Akt versteht, den wir schriftlic­h vereinbart haben, und nicht nur ein nacktes Gesicht. Ein nacktes Gesicht zeigen können auch freche Mörder . . . SN: Würde uns das nicht wieder mit den Muslimen verbinden, die den Koran so hochhalten? Ja, in gewisser Weise. Die Muslime haben daraus aber nicht viel gemacht, sie sind in ihrer Religion sehr mittelalte­rlich geblieben, sie wollen den Koran nicht auslegen. In Europa haben wir dagegen durch die Bibelübers­etzung von Martin Luther – auch eine schriftlic­he Leistung – einen völlig anderen philologis­chen, kritischen, aufmerksam­en Blick auf diesen Text. Dadurch haben wir uns weiterentw­ickelt. Das fehlt bisher im arabischen Islam. Erst jetzt ringen Menschen wie Navid Kermani wirklich darum, dass der Islam reformiert wird.

Claudia Schmölders ist Kulturwiss­enschafter­in, Schriftste­llerin und Übersetzer­in. Sie habilitier­te sich 1997 an der Humboldt-Universitä­t Berlin mit einer Geschichte der Physiognom­ik und ist seit 1998 Privatdoze­ntin am Kulturwiss­enschaftli­chen Seminar dieser Uni. Von ihr stammt u. a. das Buch über „Hitlers Gesicht. Eine physiognom­ische Biographie“. München 2000

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BILD: SN/FOTOLIA
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BILD: SN/PLAINPICTU­RE/FANCY IMAGES Das Gesicht – eine europäisch­e Obsession.
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