Die vielleicht letzten Regierungsmonate der
ÖVP Die Zukunftsaussichten der kleineren Regierungspartei sind düster. Ein Führungswechsel knapp vor der Wahl soll das Schlimmste abwenden. Reinhold Mitterlehner erträgt das überraschend tapfer.
WIEN.
Es gehört zur Folklore in der ÖVP, dass der Bundesparteiobmann den Kanzleranspruch stellt. Der letzte ÖVP-Chef, der wirklich Bundeskanzler wurde, war Wolfgang Schüssel. Für seine Nachfolger Wilhelm Molterer, Josef Pröll und Michael Spindelegger blieb es bis zu ihrem unglücklichen Abgang beim unerfüllten Anspruch. Bald wird auf dieser Liste ein vierter Namen stehen: Reinhold Mitterlehner.
Der amtierende ÖVP-Chef und Vizekanzler hat nicht die geringste Chance, Bundeskanzler zu werden. Seine Partei liegt in den Umfragen weit hinter FPÖ und SPÖ abgeschlagen auf Platz drei. Außerdem wird es gar nicht mehr Reinhold Mitterlehner sein, der nach der nächsten Nationalratswahl (die vermutlich bereits 2017 stattfindet) die Koalitionsverhandlungen führt.
Zwischen SPÖ und ÖVP bestand in der Vergangenheit neben vielen anderen immer auch folgender Unterschied: Die SPÖ wechselte ihren Parteichef stets vor einer drohenden Niederlage aus, die ÖVP immer erst danach. Nun aber hat die ÖVP anscheinend dazugelernt und dürfte – wenn nicht alle Anzeichen trügen – schon vor der nächsten Wahl das Gesicht an der Spitze auswechseln. Außenminister Sebastian Kurz wird dann für die ÖVP gegen Christian Kern und Heinz-Christian Strache in den Ring steigen.
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner scheint sich damit bereits abgefunden zu haben. Den ganzen Sommer hindurch überließ er Kurz und Innenminister Wolfgang Sobotka die politische Bühne. Selbst trat er kaum in Erscheinung. Man kann es kaum glauben, dass der Mann, der vor exakt zwei Jahren als siegesgewisser „Django“die Partei übernahm, jetzt so schicksalsergeben ist. Aber die Würfel in der ÖVP sind gefallen. Mitterlehner müht sich mit dem aussichtslosen Alltagsgeschäft ab, Kurz punktet mit markigen Asyl-Sprüchen.
Mitterlehners Rolle in der ÖVP wirkt so wie die eines Radfahrers, der am Ende einer Etappe zwar an der Spitze des Feldes fährt, aber nur aus dem Grund, damit sich sein Kapitän im Windschatten noch etwas ausruhen und Kraft für den Zielsprint sammeln kann.
Ob diese Taktik für die ÖVP aufgeht, lässt sich heute noch nicht sagen. Sebastian Kurz hat im Wahlkampf sicher bessere Chancen als Reinhold Mitterlehner. Dennoch kann es für die ÖVP ganz schlimm kommen – bei der Wahl und vor allem danach. Platz zwei bei der Nationalratswahl wäre schon eine Überraschung und die Karten beim anschließenden Koalitionspoker sind für die ÖVP nicht gut. Zwei mögliche Varianten zeichnen sich ab. Erstens: Eine Fortsetzung der rotschwarzen Koalition geht sich wegen der SPÖ- und ÖVP-Verluste nicht aus, also muss ein dritter Partner her. Realistisch sind dies die Grünen oder die Neos, also Parteien links der Mitte. In der rot-schwarzgrün/pinken Koalition stünde es somit immer zwei zu eins gegen die ÖVP. Eine aussichtslose Rolle.
Variante zwei: Die SPÖ bootet die ÖVP überhaupt aus und geht eine Koalition mit der FPÖ ein. Der rotblaue Probegalopp im Burgenland funktioniert ja zur größten beiderseitigen Zufriedenheit. Somit könnte es der ÖVP – die seit 1987 (!) in der Regierung sitzt – passieren, dass sie sich nach der nächsten Wahl in der Opposition wiederfindet. Sie würde also soeben ihre letzten Regierungsmonate für möglicherweise lange Zeit erleben.
Variante drei ist reichlich theoretisch. Blau-Schwarz wird nach der Wahl kaum über eine Mehrheit im Nationalrat verfügen.
Angesichts dieser düsteren Zukunftsaussichten versteht man, warum die Stimmung in der ÖVP so schlecht ist und warum sie – so wie die SPÖ – keinen Spielraum für Kompromisse innerhalb der Großen Koalition sieht. Dabei wäre Kompromissfähigkeit das Einzige, was diese Regierungskonstellation noch retten könnte.
Mitterlehner sprach sich daher am Montagabend im ORF-„Sommergespräch“dafür aus, „jetzt Entscheidungen zu treffen“. Die Große Koalition müsse in den Arbeitsmodus kommen, sagte er. Wenn das im Herbst nicht gelinge, würden Neuwahlen „wahrscheinlich näher rücken“. Das würde jedoch nur eine Polarisierung in der Migrationsfrage bringen, aber keine Lösungen.
Dass die Minister Kurz und Sobotka die ÖVP-Linie in dieser Frage vorgeben, sein „nicht das Problem“. Allerdings wäre eine gemeinsame Präsentation der Parteilinie „eine Möglichkeit gewesen“, merkte der ÖVP-Obmann an. Dass nicht er, sondern Kurz der Spitzenkandidat der ÖVP bei der nächsten Nationalratswahl sein wird, schließt Mitterlehner nicht aus. Er wolle „niemandem im Weg stehen“. Jede Partei müsse froh sein, so talentierte Kräfte wie Sebastian Kurz zu haben.