Über Bilder die Welt verstehen
Der Kunsthistoriker Aby Warburg war seiner Zeit weit voraus. In Karlsruhe wird er gewürdigt.
Er wurde vor 150 Jahren geboren, seine Ansichten, Ideen und Thesen sind heute brandaktuell. Er ist eine Zeitlang in Vergessenheit geraten und erlebt nun wieder eine Renaissance: Aby Warburg (1866–1929), der Kunsthistoriker und Kulturwissenschafter, der als Wegbereiter der Ikonografie (Beschreibung und Inhaltsdeutung von Bildwerken) gilt. Eine Ausstellung im Zentrum im ZKM Karlsruhe präsentiert ab heute, Donnerstag, die vollständige Rekonstruktion des legendären „Bilderatlas Mnemosyne“, den der gebürtige Hamburger ab 1924 zusammengestellt hat. Aby Warburgs Vorstellung: Die Antike lebt in der europäischen Kultur immer noch weiter.
Mnemosyne ist in der griechischen Mythologie die Tochter des Uranos und der Gaia und gilt als Göttin der Erinnerung. Abraham Moritz „Aby“Warburg – er litt unter manisch-depressiven Schüben und war auch in psychiatrischer Behandlung – untersuchte ab 1924 in seinem Atlasprojekt das Nachleben der Bilder. Auf großformatigen Tafeln baute er unter anderem „Wanderstraßen der Kultur“. „Bilderfahrzeuge“vollführen die Bewegungen, womit Warburg beispielsweise Kalender, Sternkarten, Teppiche, Grafiken und Ölgemälde gemeint hat.
Für das von Peter Weibel geleitete ZKM ist Aby Warburg der erste „Medienwissenschafter“, der die Kunstgeschichte um Meisterwerke aus den Bereichen Mode, Werbung und Alltagskultur erweitert hat. Schwarz-Weiß-Fotografien von Kunstwerken und Objekten aus unterschiedlichen Epochen berichten auf den schwarz bespannten Tafeln (eine Anregung seines Assistenten, dem österreichischen Kunsthistoriker Fritz Saxl) von Bildzusammenhängen, die so zuvor nicht gesehen worden sind. Will heißen: Es gibt innere Verbindungen zwischen antiken Objekten und etwa Pressefotos der Gegenwart, zwischen Reklamedarstellungen und historischen Gemälden, zwischen Hochkultur und einer Kultur der Massen.
Mithilfe der arrangierten Bilder zeige der Sohn einer Hamburger Bankiersfamilie Beziehungen, aber auch Konflikte auf, sagt Roberto Orth von der Forschungsgruppe Mnemosyne, der gemeinsam mit Axel Heil auch die Karlsruher Ausstellung kuratiert hat.
Aby Warburg sammelte Tausende von Fotos, die vierzig Kartons füllten. Sein Atlas blieb bei 63 Bildtafeln unvollendet, für das ZKM wurden sie erstmals in Originalgröße (170 Zentimeter mal 140 Zentimeter) rekonstruiert und chronologisch aufgehängt. Zwei der 63 Bildtafeln sind Originale: die Tafel 32 zum Thema „Karneval“und die Tafel 48 zum Thema „Fortuna“.
Für das Kuratoren-Duo hat der Mnemosyne-Atlas mittlerweile den Status „einer Legende mit Weltruhm“. Er sei mindestens ebenso bekannt wie Warburgs Bibliothek, die seit 1933 in London beheimatet ist. „Er ist in seiner Komplexität eine Art bildhistorische Vielzweckwaffe, ein Instrument, das nicht nur entschlüsselt, sondern auch angewandt werden kann“, sagt Orth.
Im Zeitalter der digitalen Bilderflut stellt sich die Frage, wie Aby Warburg in der Gegenwart forschen würde. Wie aktuell seine Zugänge sind, zeigt der von ihm verwendete Begriff „Bilderfahrzeuge“. Dieser bereichert mittlerweile unter neuen Namen – „Iconic Turn“und „Pictorial Turn“(Ikonische Wende, Wende zum Bild) die Fachwelt. Warburgs Vorstellung von Bildträgern und -medien als „Fahrzeuge“, auf denen Botschaften, Formen und Figuren durch die Zeit und in unterschiedlichen Bereichen getragen werden, interessiert auch zeitgenössische Künstler. Unter den 13 im ZKM gezeigten Künstlertafeln, die als Hommage an Aby Warburg zu verstehen sind, finden sich Arbeiten von Paul McCarthy, Olaf Metzel, Matt Mullican, Albert Oehlen, Elfie Semotan und Peter Weibel. Eine späte, wichtige Würdigung einer außergewöhnlichen Person. Ausstellung: