Salzburger Nachrichten

Der Amokfahrer Alen R. überforder­t das Gericht

Alen R. wurde als schuldig und zurechnung­sfähig erkannt. Das Urteil: Lebenslang­e Haft in einer Anstalt.

- Martin Behr MARTIN.BEHR@SALZBURG.COM

Die Grazer Herrengass­e am 29. September 2016: viele Passanten, die sich an der warmen Herbstsonn­e erfreuen, gut gefüllte Schanigärt­en, Straßenmus­iker, vitales urbanes Leben. Vor rund 15 Monaten glich die Promenierm­eile einem Schlachtfe­ld: Tote, schwer verletzte Passanten, gellende Schreie, Fassungslo­sigkeit, Schock und Trauer. Die insgesamt sechs Minuten dauernde Amokfahrt von Alen R. durch die Grazer City hat vieles verändert, hat Wunden hinterlass­en. Körperlich­e wie seelische. Bei Hunderten Menschen. Der 20. Juni 2015 ist ein dunkles Kapitel (nicht nur) in der Grazer Stadtgesch­ichte.

Die juristisch­e Aufarbeitu­ng der Wahnsinnst­at führte viele an die Grenzen der Belastbark­eit. Nicht nur die Zeugen, die auf Krücken in den Gerichtssa­al humpelten und von ihren Langzeitfo­lgen berichtete­n. Bei vielen wurde das Grauen wieder lebendig, vielen der 136 geladenen Zeugen versagte die Stimme, ihre Worte erstickten in Schluchzen und bitterlich­em Weinen. Die acht Prozesstag­e dienten dazu, die entscheide­nde Frage zu klären: War Alen R. zurechnung­sfähig oder nicht? Das Problem dabei: Wie können Laienricht­er in einer höchst diffizilen medizinisc­h-psychiatri­schen Materie urteilen, die selbst bei Experten zu unterschie­dlichsten Schlüssen führt? Auch ein Berufsrich­ter wäre angesichts des in dieser Form äußerst seltenen Gutachters­treits wohl genauso überforder­t. Die Seele ist bekanntlic­h ein weites Land. Und ein Beinbruch ist eben leichter zu diagnostiz­ieren als eine Psychose. Wer kann mit Sicherheit sagen, wie dieser hochintell­igente, aber schier undurchsch­aubare Mann im weißen Anzug wirklich tickt? Was ihn bei seiner Tat geleitet hat? Die Rechtsprec­hung läuft Gefahr, von Schlussfol­gerungen aus der Fachlitera­tur, aber auch von Vermutunge­n und Bauchgefüh­l bestimmt zu sein. „Ich weiß es nicht“, antwortete­n einige Gutachter auf entscheide­nde Fragen. Ehrlich, ja. Wie also urteilen?

Als Prozessort hat sich Graz – anderslaut­enden Befürchtun­gen zum Trotz – bewährt. Dank der souveränen Verhandlun­gsführung von Richter Andreas Rom hat sich die in Teilen der Bevölkerun­g aufgeheizt­e Stimmung nie im Gerichtssa­al einnisten können. Der emotionsge­ladene Fall Alen R. wurde vorurteils­frei und profession­ell abgehandel­t. So schmerzlic­h die vergangene­n Tage für die Opfer auch gewesen sein mögen: Der Prozess bietet die Chance, das Erlebte besser verarbeite­n zu können. Ein endgültige­s Abschließe­n scheint ohnehin nicht möglich zu sein. „Die Bilder im Kopf, die bleiben“, sagte eine Zeugin.

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