Keiner springt über den eigenen Schatten
Der neue Leiter des Wifo, Christoph Badelt, kritisiert das Zaudern der Politiker. Aus Angst vor populistischen Strömungen würden wichtige Entscheidungen immer wieder verschoben. Zum Schaden des Landes und seiner Bürger.
SN: Sie stehen seit einem Monat an der Spitze des Wifo. Was sind Ihre ersten Eindrücke? Christoph Badelt: Das Wifo ein quirliger Haufen hochengagierter Menschen, es gibt viele spannende Themen und eine große Bereitschaft, Theorie und Empirie mit Wirtschaftspolitik zu verbinden. SN: Gutes Stichwort – als Wifo-Chef ist man ja auch Politikberater. Wenn Sie die Regierung um Rat fragt, wie Österreich wieder zu mehr Wirtschaftswachstum kommt, was würden Sie empfehlen? Frustrierend ist, dass die Botschaften bekannt und nach wie vor gültig sind, weil wichtige politische Entscheidungen einfach nicht getroffen wurden. Will man Wirtschaftswachstum nachhaltig steigern, sind Investitionen in Bildung, Forschung und moderne Technologien das wirksamste Mittel. Das Problem ist auch die Größe des öffentlichen Sektors und die damit verbundene Abgabenbelastung. Um die zu senken, muss im öffentlichen Sektor die Effizienz steigen, auch, um notwendige Staatsausgaben finanzieren zu können. Zumal die sozialen Probleme größer werden, wir werden uns an relative hohe Arbeitslosenraten gewöhnen müssen. SN: Das heißt selektiv durchaus höhere staatliche Investitionen? In der Bildung jedenfalls, dennoch muss man auch dort Ineffizienzen auf den Grund gehen. Die Integration weniger begabter Menschen in das Sozialsystem und den Arbeitsmarkt und gleichzeitig die Förderung hochbegabter Menschen ist nur durch innere Differenzierung einer formal gemeinsamen Schule zu schaffen. Das kostet alles Geld. SN: Hat Bundeskanzler Kern also recht, wenn er nach öffentlichen Investitionen ruft, abgesehen von der Frage, wie man sie finanziert? Das ist der Punkt. Ich habe genau gelesen, was er gesagt hat, und stimme seiner Diagnose zu mehr als 90 Prozent zu. Er hat recht, was soziale Probleme in der EU und daraus entstehende populistische Strömungen angeht. Was er nicht gesagt hat, ist, woher das Geld kommen soll. Ich glaube, wir sollten die Verschuldung nicht erhöhen, auch wenn die Schuldenquote derzeit leicht sinkt und die Versuchung sehr groß ist, sich günstig zu verschulden. SN: Sie sagten, die Probleme sind bekannt. Warum ist Ös- terreich gut in der Diagnose, aber schwach in der Therapie? Zum einen gibt es Themen, die zwischen den Regierungsparteien umstritten sind. Aber noch wichtiger ist, dass wir ein politisches System haben, das es den Politikern in Regierung und Parlament so schwer macht, Entscheidungen zu treffen, die gegen Gruppeninteressen sind. SN: Zum Beispiel? Wenn von Einsparungen bei der öffentlichen Hand die Rede ist, die nicht zulasten der Leistungen gehen, stimmen alle zu. Aber sobald es konkret wird, sind die Interessen so miteinander verstrickt, dass man nicht weiterkommt, der Finanzausgleich ist das beste Beispiel dafür. SN: Politikern fehlt es weniger am ökonomischen Sachverstand, sondern einfach am Mut? Ja, es fehlt oft der Mut. Aber es geht auch um wechselseitige Abhängigkeiten. Nehmen Sie die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und die Verantwortung für das Aufbringen und Ausgeben der Mittel – das passt nicht zusammen. Wenn man dann Abgabenhoheit für die Länder vorschlägt, kommt von dort rasch Widerspruch. Lieber fordert man im Finanzausgleich mehr Geld und gibt es selbst aus. SN: Was stört sie noch an der wirtschaftspolitischen Debatte? Dass es den beiden Regierungsparteien fast nie gelungen ist, über ihren Schatten zu springen und Kompromisse zu erzielen, die gut für die Bevölkerung sind. Das beste Beispiel ist die Bildungspolitik. Die ÖVP müsste einer ausreichend innerlich differenzierten Gesamtschule zustimmen, und die SPÖ müsste bei der Finanzierung und dem Zugang zu Hochschulen über ihren Schatten springen. Dann hätten wir eine echte Bildungsreform. SN: Es fehlen die großen Würfe? Es besteht große Angst, einmal eine eigene Position aufzugeben. Dazu kommt, dass man sich vor populistischen Strömungen fürchtet. Das ist auch nichts Neues, wenn ich daran erinnere, wie viele Koalitionen sich seinerzeit vor der Polemik des Jörg Haider gefürchtet haben. SN: Ein aktuelles Beispiel wäre die Debatte über die Handelsverträge CETA und TTIP. Da üben sich auch die Regierungsparteien in Populismus. Die Debatte über CETA ist total absurd, bei TTIP lässt man nicht einmal zu, dass man über die Probleme verhandelt. Ein anderes Beispiel ist die Diskussion über die Reform der Mindestsicherung, die hat eine viel zu große Dimension angenommen. Da wird so getan, als ob ein paar Leute, die viel Mindestsicherung beziehen, den Sozialstaat gefährden und er durch Kürzungen gerettet würde. SN: Kritiker in der Zivilgesellschaft beschäftigen sich intensiv mit CETA. Könnte man denen mit Argumenten die Angst nehmen, oder kommt man gegen die Emotion nicht an? Man muss unterscheiden. Es gibt viele Menschen, die sich von der populistischen Debatte beeinflussen lassen und gegen CETA sind, obwohl sie keine Ahnung haben. In den größeren NGOs gibt es aber Menschen, die sich sehr gut auskennen und teilweise berechtigte Kritik vorbringen, die aber auch gegen die Globalisierung an sich kämpfen. Sie sehen CETA und vor allem TTIP als Schub für die Globalisierung, die wird aber sehr einseitig betrachtet. Niemand leugnet, dass es auch Verlierer gibt, aber eine pauschale Verunglimpfung ist sachlich nicht gerechtfertigt. SN: Würden Sie der Regierung raten, CETA zuzustimmen? Ja. Man kann versuchen, bei den Schiedsgerichten noch etwas mehr zu erreichen, ob das politisch möglich ist, weiß ich nicht. Der große Vorteil bei CETA ist, dass bei den Schiedsgerichten keine Interessenvertreter, sondern Richter zum Einsatz kommen. Wenn man sich nur im internationalen Privatrecht bewegt, wird man nicht in jedem Vertrag Österreich als Gerichtsstand vereinbaren können. Wenn der in Kanada oder den USA liegt, ist fraglich, ob das besser ist. Mit CETA liegt ein Vertrag vor, der besser ist als einige Abkommen, die der Nationalrat bereits ratifiziert hat. SN: Sie haben die hohe Abgabenbelastung erwähnt. Es gab heuer eine Tarifreform, wo müsste man noch ansetzen? Die Konjunktur wird heuer stark vom Konsum getragen, dazu hat die Steuerreform beigetragen, weil die Kaufkraft gestiegen ist. Wir brauchen jetzt aber auch eine Strukturreform, um von der überdurchschnittlich hohen Belastung der Arbeit wegzukommen. Dazu müssen wir bei den Ausgaben sparen und für die Umwelt schädliche Emissionen stärker als bisher besteuern. SN: Da schreien aber gleich wieder Gruppen auf – die Industrie oder die Autofahrer. Ja, da sehe ich es als unsere Aufgabe, ökonomische Effekte zu berechnen und die Be- und Entlastungen abzuwägen. Erst dann kann man eine politische Entscheidung treffen. SN: SPÖ-Chef Kern hat zur Finanzierung des Sozialsystems die Wertschöpfungsabgabe wieder ins Spiel gebracht. Würden Sie die aus einer solchen Debatte ausklammern? In einem Gesamtkonzept sollte sie kein Tabu sein, aber sie müsste mit einer Umschichtung und einer Senkung der Abgabenbelastung einhergehen. Dass die Probleme der Finanzierung des Sozialsystems langfristig größer werden, ist aber klar. Christoph Badelt (*1951)
folgte am 1. 9. Karl Aiginger als Chef des Wifo. Davor war der Ökonom und Experte für Sozialpolitik 14 Jahre lang Rektor der Wirtschaftsuniversität Wien.