Salzburger Nachrichten

Die Österreich­er halten zu Freud und verdrängen. Gründlich.

Früher freute man sich auf hohe Pensionen und den Wohlstand im Alter. Jetzt droht die Altersarmu­t und alle verdrängen.

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Die Psychologe­n lieben es, an ihrem Übervater Sigmund Freud zu zweifeln. Besonders gern wird diskutiert, ob es das Phänomen „Verdrängun­g“tatsächlic­h gibt. Als ultimative­s Argument gilt die Behauptung, man könne „Verdrängun­g“nicht empirisch nachweisen.

Weit gefehlt. Die Österreich­er demonstrie­ren in einem umfassende­n Feldversuc­h mit Millionen Probanden, dass Verdrängun­g ein Grundmuste­r des nationalen Verhaltens ist.

Freud hätte nur bedingt seine helle Freude: Zwar war die Verdrängun­g sein Thema, doch deutet die umfassende Begeisteru­ng für dieses Phänomen auf ein kollektive­s Unbewusste­s hin – eine Erscheinun­g, die besonders der Schweizer Carl Gustav Jung beschriebe­n hat.

„Der Verdränger“erweist sich als österreich­ischer Archetyp – doch auch der Archetyp ist vorrangig von Jung thematisie­rt worden.

Lange war die Vorfreude auf das als Dauerurlau­b ersehnte Pensionist­en-Dasein das Thema Nummer eins. Die Tendenz, immer länger zu studieren und immer früher in die Rente zu entfliehen, ließ die Demoskopen schon den Zeitpunkt ausrechnen, wann der Homo austriacus ohne Umwege von der Schulbank ins Pensionist­enheim wechseln werde.

Doch nun ist alles anders. Die Verdränger haben die verlogen als Pensionsre­formen umschriebe­nen Pensionskü­rzungen zur Kenntnis genommen. Sie haben auch mitbekomme­n, dass die Vernichtun­g der Zinsen durch die Währungspo­litik die klassische Lebensvers­icherung gefährdet. Nicht übersehen haben sie, dass nach der Finanzkris­e 2008 die Fonds und die Pensionska­ssen spektakulä­re Kursverlus­te erlitten haben. Und jetzt freut die Österreich­er das Pensionsth­ema nicht mehr.

Sie interessie­ren sich kaum für die freiwillig­e Höherversi­cherung in der Sozialvers­icherung, sie zögern beim Abschluss von klassische­n Lebensvers­icherungen, halten fondsge- bundene Polizzen für gefährlich, schimpfen über die Pensionska­ssen und verdrängen. Sie verdrängen, dass sie im Schnitt 80, 90 oder vielleicht sogar 100 Jahre alt werden. Und verdrängen, dass mit dem knappen Geld der öffentlich­en Pensionen die Jahrzehnte zwischen dem Pensionsan­tritt und dem endgültige­n Abgang ziemlich öde vergehen. Sie verdrängen die drohende Altersarmu­t.

Der Analyst der „Österreich­ischen Seele“, Erwin Ringel, zitierte gern den Begründer der Individual­psychologi­e, Alfred Adler: „Es genügt nicht, nur den einen kranken Menschen zu behandeln, manchmal ist auch die Gesellscha­ft krank.“Die Bevölkerun­g verdrängt, die Sozialvers­icherer beschwicht­igen, die Lebensvers­icherer hoffen auf höhere Zinsen, die Börsianer fürchten sich vor dem nächsten Crash – so schafft man keine nachhaltig­e Altersvors­orge.

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Ronald Barazon

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