Die ÖVP sucht die Mutigen
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner will den Menschen im Land Mut machen, etwas anzupacken. Und er will Ängste nehmen, etwa vor der Globalisierung. Sein Appell richtet sich wohl auch an die eigene Partei.
WIEN. Freitag, 9.45 Uhr, in der Wiener Innenstadt. Vor der Akademie der Wissenschaften fahren mehrere dunkle Limousinen vor. Die Minister Wolfgang Sobotka und Andrä Rupprechter, Landeshauptmann Josef Pühringer und Gemeindebundpräsident Helmut Mödlhammer reihen sich in die Schlange der Gäste ein, die bis auf die Straße stehen. Ex-Ministerin Johanna Mikl-Leitner geht mit dem Satz „Mir ist kalt“an den Wartenden vorbei zu einem anderen Eingang. Vis-à-vis hat eine Abordnung der Neos zwei Plakate mitgebracht mit den Slogans: „Heiße Luft schafft keine Jobs“und „Seit 30 Jahren sichert die ÖVP nur einen Job: den des Wirtschaftsministers“.
Um den geht es heute. Reinhold Mitterlehner, der zudem noch Vizekanzler und ÖVP-Obmann ist, hat eingeladen – zu einer Rede über die wirtschaftliche Lage der Nation. Um zwölf Minuten nach zehn zieht er unter Musik und rhythmischem Beifall der rund 600 Gäste in den Saal ein. Den Einpeitscher gibt Generalsekretär Werner Amon. Er sagt, die ÖVP widme den Tag den Mutigen, und nennt einen beim Namen, dem er Mut abspricht, Sozialminister Alois Stöger. Der solle endlich den Weg für eine Mindestsicherung freimachen, die kein dauerhaftes Einkommen, sondern eine Überbrückungshilfe sei, sagt Amon.
Dann betritt der Chef die Bühne. Reinhold Mitterlehner ist bekanntlich kein Volkstribun. Aber es klingt ehrlich, wenn er sagt, es gehe ihm um Grundsätzliches und nicht um Befindlichkeiten in der Koalition. Was Mitterlehner ankündigt und in den folgenden 55 Minuten liefert, ist ein Befund, vor welchen Herausforderungen Österreich steht, wie man sie aus Sicht der ÖVP meistern sollte und wo er das Land gern sähe – unter den wirtschaftlich fünf besten in Europa und den zehn besten der Welt. Die Schlüsselbegriffe in seiner Rede sind Angst und Mut. Es gehe nicht darum, sich selbst Mut zuzusprechen wie beim Pfeifen im Wald, sagt Mitterlehner, die ÖVP kennzeichne der Mut in allen Lebenslagen. Dennoch klingt es so, als müsste er die vielen, die unten sitzen und ihm zuhören, daran erinnern, dass die ÖVP einmal eine große Partei war, die große Vorhaben mutig anging, statt zu zaudern und Probleme zu verschleppen.
Dass Europa den größten gesellschaftlichen Umbruch seit 1945 erlebe, verunsichere die Menschen. In Österreich komme hinzu, dass Angst geschürt werde, vor der Globalisierung, dem Freihandel, der Digitalisierung. Die Antwort der Linken sei der Protektionismus, die der Rechten der Nationalismus. Das Problem sei, dass die Debatte über die genannten Themen von Vorurteilen getragen und weitgehend frei von Fakten geführt werde. Der gefühlten Wahrheit wolle er eine Politik entgegenstellen, die „nicht das Populäre, sondern das Richtige tut“, zitiert Mitterlehner den früheren deutschen Außenminister HansDietrich Genscher. Und fügt hinzu: Wer politisch erfolgreich sein will, dem müsse es aber auch gelingen, das Richtige populär zu machen.
Der Chef der Europapartei ÖVP spart Kritik an der EU nicht aus, die solle sich um große Lösungen für die großen Probleme kümmern und alles andere im Sinne der Subsidiarität den Ländern überlassen. Zwischenapplaus. Mitterlehner fordert, dass Österreich nicht auf jede Richtlinie aus Brüssel etwas draufsetzen soll. Zudem sollte man sich Großbritannien zum Vorbild nehmen, wo für jede neue Regulierung, die Kosten für die Wirtschaft bringe, Regeln wegfielen, mit denen das Doppelte der Kosten eingespart werde. Wenn man das hört, fragt man sich aber auch, was die ÖVPMandatare im Nationalrat so tun.
Den Namen des Koalitionspartners nimmt Mitterlehner nicht ein einziges Mal in den Mund. Die SPÖ kommt nur indirekt vor. Wenn er kritisiert, dass die Wertschöpfungsabgabe die falsche Antwort auf Digitalisierung ist, die man als Chance begreifen und auf die man mit neuen Arbeitsformen und flexibleren Arbeitszeiten antworten müsse. Oder wenn er fordert, dass die Mindestsicherung nicht zur lebenslangen Existenzsicherung werden dürfe. Oder dass Studiengebühren keineswegs unsozial seien, wenn man sie, wie die ÖVP das will, mit ausgeweiteten Stipendien abfedere.
Apropos sozial. Die ÖVP bezeichnet Mitterlehner zwei Mal als christlich-demokratische Partei. Ein Versprecher, oder ist der ÖVP das Soziale tatsächlich abhandengekommen, wie ihr politische Gegner vorwerfen? Wie sich Mitterlehners Ansage, dass Schuldenmachen das Unsozialste überhaupt sei, mit dem vor wenigen Tagen von Finanzminister Hans Jörg Schelling vorgelegten Budget in Einklang bringen lässt, ging im tosenden Beifall unter.
Nicht hoffen, dass alles so bleibt, wie es ist. Nicht glauben, dass der Staat alle Probleme löst. Und nicht warten, dass jemand anderer etwas tut, sondern selbst Verantwortung übernehmen, das wünscht sich der ÖVP-Chef. Sein „Packen wir es an“zum Schluss klingt einmal mehr wie ein Weckruf an seine Partei. Ob die ihrem Obmann nicht nur applaudiert, sondern auch zugehört hat?
„In Österreich wird viel umverteilt. Aber es muss etwas zu verteilen geben.“