30 Jahre lang hat ein Mann von Jutta geschwärmt. Plötzlich steht sie vor ihm.
Belletristik 1 (1) 2 3 4 5 6 7 (7) 9 10 J. Rowling, J. Thorne, J. Tiffany, Harry Potter und das verwunschene Kind, Carlsen Verlag, Euro 20,60 (NEU) Simon Beckett, Totenfang, Wunderlich, Euro 23,60 Elena Ferrante, Meine geniale Freundin, Suhrkamp, Euro 22,70 Lori Nelson Spielman, Und nebenan warten die Sterne, Fischer Krüger, Euro 15,50 V. Klüpfel, M. Kobr, Himmelhorn, Droemer/Knaur, Euro 20,60 Charlotte Link, Die Entscheidung, Blanvalet Verlag, Euro 23,70 J. Rowling, J. Thorne, J. Tiffany, Harry Potter and the Cursed Child, Pts. 1 + 2, Little, Brown Book Group, Euro 25,50 Henning Mankell, Die schwedischen Gummistiefel, Zsolnay Verlag, Euro 26,80 (NEU) Nele Neuhaus, Im Wald, Ullstein Verlag, Euro 22,70 Cody McFadyen, Die Stille vor dem Tod, Bastei Lübbe, Euro 23,60 (2) (3) (4) (8) 8 (5) (6) Sachbücher 1 (NEU) Johannes Huber, Es existiert,
Edition A, Euro 21,90 2 (NEU) Eckart von Hirschhausen, Wunder wirken Wunder, Rowohlt, Reinbek, Euro 20,60 Rudolf Taschner, Woran glauben, Brandstätter Verlag, Euro 24,90 Michael Köhlmeier, Konrad Paul Liessmann, Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?, Hanser Verlag, Euro 20,60 Bruce Springsteen, Born to Run, Heyne Verlag, Euro 28,80 Heinz Fischer, Eine Wortmeldung, Ecowin Verlag, Euro 14,00 7 (NEU) Yael Adler, Haut nah Droemer/Knaur, Euro 17,50 E. Steinhauer, F. Schindlecker, Wir sind SUPER!, Ueberreuter Verlag, Euro 21,99 Lorenz Gallmetzer, Süchtig, Kremayr & Scheriau Verlag, Euro 22,00 Guinness World Records 2017, Hoffmann und Campe, Euro 23,60 3 (1) 4 (9) 5 (2) 6 (4) 8 (7) 9 (8) 10 (6) Ermittelt von GfK Entertainment. © GfK Entertainment
Was sagt es über die erste große Liebe aus, wenn man die Angebetete 30 Jahre später erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt? Es muss doch etwas geben, das die unvermeidliche Alterung schadlos überdauert hat – ein Lächeln, eine Geste oder die einst so liebenswerte Zahnlücke! Diese Frage stellt sich einem Schriftsteller, den der Schriftsteller Navid Kermani zum Ich-Erzähler in seinem neuen Roman „Sozusagen Paris“einsetzt.
Dieser Ich-Erzähler hat einen Roman über die große Liebe seiner Jugend geschrieben. Nach einer Lesung des Buchs über seine zur Romanfigur gewordene Jugendliebe steht diese Jutta vor ihm, besteht allerdings beim Signieren des Buchs darauf, nicht Jutta genannt zu werden. Sie ist es dennoch, auch wenn die Zahnlücke derweil leider verschwunden ist. Und sie ist – gereifter und natürlich etwas gealtert – noch immer die begehrenswerte Schönheit, wie er sie als 15-Jähriger vom Schulhof her gekannt und geliebt hat. Ob da noch etwas geht, fragt er sich nun – und sie, ob sie ihn zum Essen mit den Initiatoren der Lesung begleiten möchte. Sie möchte und ist alsbald Mittelpunkt der Gesellschaft.
Möglicherweise als Entschädigung für seine vorübergehende Entthronung als Ehrengast lädt sie ihn auf ein Glas Wein zu sich nach Hause ein – muss ja nicht lang sein. Es wird lang. Die ganze Nacht dauert die beredte Zweisamkeit, über die er bereits den nächsten Roman gedanklich formuliert. Auch als er erfährt, dass oben Juttas drei Kinder schlafen und ihr Mann über seinen Abrechnungen sitzt, denkt er noch an Sex, während sie, die Bürgermeisterin der Kleinstadt, sich langsam entblättert, allerdings rhetorisch.
Zu seinem Leidwesen geht sie nicht darauf ein, was er in seinem Roman über seine große Liebe – nämlich Jutta – geschrieben hat. Vielmehr steigert sie sich in Rage, wenn sie über ihr Leben spricht, das doch anders verlaufen sollte. Statt Weltrettung nunmehr Mülltrennung und sensorgesteuerte Ampeln, statt Empathie nun Gleichgültigkeit ihres Mannes – oder schlimmer.
Es entspinnt sich ein Disput über Liebe, Hass, Ehe, Trennung, Sex und Erfüllung – wunderbar befeuert durch die hauptsächlich französische Literatur, die hinter den beiden im Bücherschrank steht. Proust, Balzac, Zola, Flaubert und Stendhal eignen sich für die Grundierung seiner Ansichten über Glück oder Unglück in der Ehe – einer bürgerlichen, wie sie im 19. Jahrhundert entstand und, na ja, vielen auch heute noch als Normativ gilt, mit ein paar emanzipatorischen Korrekturen und womöglich mit einem etwas anderen Verständnis von Treue.
Jutta, einst progressive Schulfreundin, nun Stadtoberhaupt und nebenbei TantraLehrerin, sieht allein durch die mit ihrem Mann praktizierte tantrische Erotik neben den Kindern die Basis für den Erhalt der Ehe, die ansonsten wohl eher zur Scheidung ausgeschrieben werden müsste. Er ist sich nicht sicher, was Jutta will. Und was will er selbst? Seine gescheiterte Ehe kommt ihm in den Sinn und überhaupt die Frage über die Sinnhaftigkeit des Zusammenlebens.
Statt eine Antwort zu geben, assoziiert der 1967 in Deutschland geborene Iraner Bilder der französischen Literatur aus der Vergangenheit mit denen aus Juttas Gegenwart. Und so steht Paris als Symbol für gedanklichen, epischen und erotischen Freigeist. Nicht nur wegen der Weiterführung der Handlung, sondern auch wegen seiner liberalen Deutung des Begriffs „Beziehung“kann „Sozusagen Paris“als Fortführung von Navid Kermanis vor zwei Jahren erschienenem Buch „Große Liebe“gewertet werden.
Das ist nicht alles, was der 2015 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrte Autor, der in Köln lebt, in seinem neuen Roman berührt: Es geht auch um religiöse Toleranz und politische Aktualität. Den Islam samt dem mit ihm derzeit assoziierten Terror will der muslimische Protagonist als Gesprächsthema mit Jutta partout vermeiden und zieht ihn doch – gedanklich abschweifend – immer wieder hinzu.
Das knapp 300 Seiten starke Buch enthält viele Nuancen, obwohl es hauptsächlich ein einziges, die Nacht füllendes Beziehungsgespräch zweier Menschen ist, die einander 30 Jahre nicht gesehen haben. „Sozusagen Paris“ist unterhaltsam, überraschend und manchmal sehr witzig. Navid Kermani: