Salzburger Nachrichten

30 Jahre lang hat ein Mann von Jutta geschwärmt. Plötzlich steht sie vor ihm.

- SN, dpa Sozusagen Paris, 288 Seiten, Hanser Verlag, München 2016.

Belletrist­ik 1 (1) 2 3 4 5 6 7 (7) 9 10 J. Rowling, J. Thorne, J. Tiffany, Harry Potter und das verwunsche­ne Kind, Carlsen Verlag, Euro 20,60 (NEU) Simon Beckett, Totenfang, Wunderlich, Euro 23,60 Elena Ferrante, Meine geniale Freundin, Suhrkamp, Euro 22,70 Lori Nelson Spielman, Und nebenan warten die Sterne, Fischer Krüger, Euro 15,50 V. Klüpfel, M. Kobr, Himmelhorn, Droemer/Knaur, Euro 20,60 Charlotte Link, Die Entscheidu­ng, Blanvalet Verlag, Euro 23,70 J. Rowling, J. Thorne, J. Tiffany, Harry Potter and the Cursed Child, Pts. 1 + 2, Little, Brown Book Group, Euro 25,50 Henning Mankell, Die schwedisch­en Gummistief­el, Zsolnay Verlag, Euro 26,80 (NEU) Nele Neuhaus, Im Wald, Ullstein Verlag, Euro 22,70 Cody McFadyen, Die Stille vor dem Tod, Bastei Lübbe, Euro 23,60 (2) (3) (4) (8) 8 (5) (6) Sachbücher 1 (NEU) Johannes Huber, Es existiert,

Edition A, Euro 21,90 2 (NEU) Eckart von Hirschhaus­en, Wunder wirken Wunder, Rowohlt, Reinbek, Euro 20,60 Rudolf Taschner, Woran glauben, Brandstätt­er Verlag, Euro 24,90 Michael Köhlmeier, Konrad Paul Liessmann, Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam?, Hanser Verlag, Euro 20,60 Bruce Springstee­n, Born to Run, Heyne Verlag, Euro 28,80 Heinz Fischer, Eine Wortmeldun­g, Ecowin Verlag, Euro 14,00 7 (NEU) Yael Adler, Haut nah Droemer/Knaur, Euro 17,50 E. Steinhauer, F. Schindleck­er, Wir sind SUPER!, Ueberreute­r Verlag, Euro 21,99 Lorenz Gallmetzer, Süchtig, Kremayr & Scheriau Verlag, Euro 22,00 Guinness World Records 2017, Hoffmann und Campe, Euro 23,60 3 (1) 4 (9) 5 (2) 6 (4) 8 (7) 9 (8) 10 (6) Ermittelt von GfK Entertainm­ent. © GfK Entertainm­ent

Was sagt es über die erste große Liebe aus, wenn man die Angebetete 30 Jahre später erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt? Es muss doch etwas geben, das die unvermeidl­iche Alterung schadlos überdauert hat – ein Lächeln, eine Geste oder die einst so liebenswer­te Zahnlücke! Diese Frage stellt sich einem Schriftste­ller, den der Schriftste­ller Navid Kermani zum Ich-Erzähler in seinem neuen Roman „Sozusagen Paris“einsetzt.

Dieser Ich-Erzähler hat einen Roman über die große Liebe seiner Jugend geschriebe­n. Nach einer Lesung des Buchs über seine zur Romanfigur gewordene Jugendlieb­e steht diese Jutta vor ihm, besteht allerdings beim Signieren des Buchs darauf, nicht Jutta genannt zu werden. Sie ist es dennoch, auch wenn die Zahnlücke derweil leider verschwund­en ist. Und sie ist – gereifter und natürlich etwas gealtert – noch immer die begehrensw­erte Schönheit, wie er sie als 15-Jähriger vom Schulhof her gekannt und geliebt hat. Ob da noch etwas geht, fragt er sich nun – und sie, ob sie ihn zum Essen mit den Initiatore­n der Lesung begleiten möchte. Sie möchte und ist alsbald Mittelpunk­t der Gesellscha­ft.

Möglicherw­eise als Entschädig­ung für seine vorübergeh­ende Entthronun­g als Ehrengast lädt sie ihn auf ein Glas Wein zu sich nach Hause ein – muss ja nicht lang sein. Es wird lang. Die ganze Nacht dauert die beredte Zweisamkei­t, über die er bereits den nächsten Roman gedanklich formuliert. Auch als er erfährt, dass oben Juttas drei Kinder schlafen und ihr Mann über seinen Abrechnung­en sitzt, denkt er noch an Sex, während sie, die Bürgermeis­terin der Kleinstadt, sich langsam entblätter­t, allerdings rhetorisch.

Zu seinem Leidwesen geht sie nicht darauf ein, was er in seinem Roman über seine große Liebe – nämlich Jutta – geschriebe­n hat. Vielmehr steigert sie sich in Rage, wenn sie über ihr Leben spricht, das doch anders verlaufen sollte. Statt Weltrettun­g nunmehr Mülltrennu­ng und sensorgest­euerte Ampeln, statt Empathie nun Gleichgült­igkeit ihres Mannes – oder schlimmer.

Es entspinnt sich ein Disput über Liebe, Hass, Ehe, Trennung, Sex und Erfüllung – wunderbar befeuert durch die hauptsächl­ich französisc­he Literatur, die hinter den beiden im Bücherschr­ank steht. Proust, Balzac, Zola, Flaubert und Stendhal eignen sich für die Grundierun­g seiner Ansichten über Glück oder Unglück in der Ehe – einer bürgerlich­en, wie sie im 19. Jahrhunder­t entstand und, na ja, vielen auch heute noch als Normativ gilt, mit ein paar emanzipato­rischen Korrekture­n und womöglich mit einem etwas anderen Verständni­s von Treue.

Jutta, einst progressiv­e Schulfreun­din, nun Stadtoberh­aupt und nebenbei TantraLehr­erin, sieht allein durch die mit ihrem Mann praktizier­te tantrische Erotik neben den Kindern die Basis für den Erhalt der Ehe, die ansonsten wohl eher zur Scheidung ausgeschri­eben werden müsste. Er ist sich nicht sicher, was Jutta will. Und was will er selbst? Seine gescheiter­te Ehe kommt ihm in den Sinn und überhaupt die Frage über die Sinnhaftig­keit des Zusammenle­bens.

Statt eine Antwort zu geben, assoziiert der 1967 in Deutschlan­d geborene Iraner Bilder der französisc­hen Literatur aus der Vergangenh­eit mit denen aus Juttas Gegenwart. Und so steht Paris als Symbol für gedanklich­en, epischen und erotischen Freigeist. Nicht nur wegen der Weiterführ­ung der Handlung, sondern auch wegen seiner liberalen Deutung des Begriffs „Beziehung“kann „Sozusagen Paris“als Fortführun­g von Navid Kermanis vor zwei Jahren erschienen­em Buch „Große Liebe“gewertet werden.

Das ist nicht alles, was der 2015 mit dem Friedenspr­eis des deutschen Buchhandel­s geehrte Autor, der in Köln lebt, in seinem neuen Roman berührt: Es geht auch um religiöse Toleranz und politische Aktualität. Den Islam samt dem mit ihm derzeit assoziiert­en Terror will der muslimisch­e Protagonis­t als Gesprächst­hema mit Jutta partout vermeiden und zieht ihn doch – gedanklich abschweife­nd – immer wieder hinzu.

Das knapp 300 Seiten starke Buch enthält viele Nuancen, obwohl es hauptsächl­ich ein einziges, die Nacht füllendes Beziehungs­gespräch zweier Menschen ist, die einander 30 Jahre nicht gesehen haben. „Sozusagen Paris“ist unterhalts­am, überrasche­nd und manchmal sehr witzig. Navid Kermani:

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