Salzburger Nachrichten

Integratio­n ist keine Einbahnstr­aße

Persönlich­e Erfahrunge­n mit einem Ehepaar aus Syrien und seinen fünf Kindern, die zu Freunden geworden sind.

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SALZBURG. Wie viele in Österreich dachten zunächst auch meine Frau und ich, als im Vorjahr Zehntausen­de Flüchtling­e unkontroll­iert ins Land strömten: Wie sollen wir das schaffen? Oder anders gesagt: Wie sollen die Behörden das schaffen?

Es war angenehm, die Verantwort­ung an „die da oben“oder an die Hilfsorgan­isationen und die große Zahl der Freiwillig­en abschieben zu können, die schnell kräftig anpackten. „Die“werden das schon schaffen, hofften auch wir. Oder genauer: „Die“müssen das schaffen.

Das latente Misstrauen, das seit dem Terror von Al Kaida und IS im Umgang mit dem Islam und Muslimen nicht vom Tisch zu wischen ist, wirkte auch bei uns als starke innere Bremse, selbst aktiv zu werden. Und das, obwohl wir unterschei­den konnten zwischen Flüchtling­en, die durch Krieg und Verfolgung alles verloren hatten, und jenen, die eine Religion für Mord und Totschlag missbrauch­en. Und das, obwohl wir fast vier Jahre lang in einer wirklich multikultu­rellen Stadt, Brüssel, gearbeitet und gelebt hatten und dabei sahen, wie befruchten­d der Austausch mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturkrei­sen sein kann.

Der Zufall wollte es aber anders. Im Gespräch mit Freunden stießen wir auf das Projekt „Ich les’ mit Dir“an der Polytechni­schen Schule Salzburg Stadt und an der Neuen Mittelschu­le Haydnstraß­e, organisier­t von Claudia Pliem und Maresi Gauss. Es sind hier ehrenamtli­che Helferinne­n und Helfer, die einmal pro Woche mit Jugendlich­en im Einzelunte­rricht lesen.

Meine Frau übernahm die Rolle der Mentorin für ein zwölfjähri­ges syrisches Mädchen. Sehr schnell wurde aus der reinen Lesehilfe mehr, weil man sich dem Wahnsinn jahrelange­r Flucht innerhalb Syriens und dann auf der Balkanrout­e, den eine Jugendlich­e in diesem Alter hinter sich hat, emotional gar nicht entziehen kann, hat man sich erst einmal darauf eingelasse­n.

Schnell merkt man aber auch, dass die angespannt­e Stimmung im Land Flüchtling­en gegenüber einen auch selbst treffen kann. Es ist dann nicht immer leicht, schon aus Rücksicht auf das ohnehin vom Krieg traumatisi­erte Kind, ruhig zu bleiben, wenn man auf offener Straße oder in Geschäften lautstark angepöbelt wird, warum das Mädchen ein Kopftuch trage und dies wirklich nicht notwendig sei.

Erlebnisse wie diese helfen aber dabei, vorübergeh­end die Perspektiv­e zu wechseln. Sie helfen dabei, sich auch einmal in die Lage muslimisch­er Flüchtling­e zu versetzen. Nicht nur wir, auch sie, oder sie oft noch viel mehr, weil sie eine ungewisse Zukunft in einem fremden Land vor sich haben, sind von Ängsten geplagt, die sie bremsen.

Es ist eine Sache, Menschen aus einem ganz anderen Kulturkrei­s unsere Wertordnun­g nachhaltig klarzumach­en. Es ist eine andere, gefährlich­e Methode, ihnen mit dem Stellwagen ins Gesicht zu fahren und Mauern aufzubauen, die sie in Ghettos treiben kann. Dann hätten wir es auf jeden Fall nicht geschafft.

Doch die Erfahrunge­n, die wir in den vergangene­n Monaten machten, waren Gott sei Dank zu 99 Prozent positiv. Aus dem intensiver werdenden Kontakt meiner Frau zum aufgeweckt­en, sehr intelligen­ten Mädchen, das schon nach wenigen Monaten in Österreich überrasche­nd gut Deutsch konnte, lernten wir auch ihre vier unglaublic­h entzückend­en Geschwiste­r und ihre Eltern kennen. Zusammenge­drängt in einem Raum mit etwas mehr als 30 Quadratmet­ern und einer angrenzend­en Kochecke warteten sie mehr als ein Jahr lang geduldig auf ihr Asylverfah­ren. Nie ein böses Wort gegenüber Österreich und die Menschen hier. Ihr einziges Motto: „Hauptsache in Frieden leben.“Dazu viele private helfende Hände, die versuchten, ihnen das bange Warten, ob Asyl ja oder nein, zu erleichter­n. Und dann der erlösende Bescheid: Asyl für alle genehmigt.

Damit begann die Wohnungssu­che, unter großem Druck, weil ihr Flüchtling­slager eineinhalb Monate nach dem Asylbesche­id schloss. Viele Absagen von Wohnungsei­gentümern folgten. Aus Prinzip vermiete man nicht an Asylanten, hieß es. Aber es gab erneut die helfende Hand, die eine entscheide­nde Brücke schlug zu Menschen, die den Mut hatten, die Familie unvoreinge­nommen kennenzule­rnen und die ihr dann sofort offen und zu für Mindestsic­herungsemp­fänger erschwingl­ichen Bedingunge­n eine Wohnung vermietete­n.

Die Kinder entwickeln sich prächtig in der Schule, auch die Eltern büffeln täglich mehrere Stunden lang Deutsch. Der Bürokratie­und Behördenma­rathon rund um Asylverfah­ren, Sozial-, Meldeamt oder Gebietskra­nkenkasse verlief von den Beamten trotz Arbeitsübe­rlastung äußerst bemüht und so weit wie möglich ohne bürokratis­che Schikanen.

Fest steht für meine Frau und mich nach diesen Erfahrunge­n: Ohne das anhaltende Engagement vieler privater Helfer wäre die syrische Familie trotz ihres eigenen persönlich­en Einsatzes bei der Wohnungssu­che oder im Kampf mit vielen Formularen und unterschie­dlichen Ämtern vorerst noch überforder­t gewesen. Es reicht nicht, wenn genug Geld bereitgest­ellt wird und „die da oben“darauf drängen, dass die Flüchtling­e ihre Bringschul­d erfüllen. Integratio­n wird wohl nur funktionie­ren, wenn auch wir einen Schritt auf sie zu machen.

„Hauptsache in Frieden leben“

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42.073 Asylanträg­e – 36.030 Personen zum Verfahren zugelassen. „2016 in Relation zur Bevölkerun­g der meistbelas­tete Staat der EU“

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