Salzburger Nachrichten

Dekadenz und Revolte können explodiere­n

Ein Autor vom Range Joseph Roths, Robert Musils oder Karl Kraus’ ist zu entdecken.

- Wolfgang Huber-Lang, APA

„Die Fahnen“ist ein imponieren­des Werk. An diesem fünfteilig­en Roman mit 1874 Seiten wird Freude haben, wer den Untergang Österreich-Ungarns in austrozent­ristischer Sichtweise geschilder­t haben möchte. Dabei ist eine Fülle historisch­er Fakten sowie ein Autor zu entdecken, der zwischen Joseph Roth, Robert Musil und Karl Kraus einzuordne­n ist: Miroslav Krleža (1893–1981). Der Kroate behandelt den Ersten Weltkrieg samt Vorgeschic­hte und Auswirkung­en. Das 1962 bis 1968 publiziert­e Werk ist nun erstmals in deutscher Übersetzun­g erschienen.

Miroslav Krleža zielt auf das große Ganze, nimmt sich dabei aber alle Zeit, um politische Feinheiten, sprachlich­e Verstiegen­heiten und gesellscha­ftliche Dummheiten zu schildern. Der vorwiegend dialogisch aufgebaute Roman gibt Gespräche seiner Protagonis­ten in aller Ausführlic­hkeit wieder, zitiert seitenlang historisch­e Dokumente oder Zeitungsar­tikel und schildert minutiös Stimmungen, mit denen sich jene explosive Mischung aus Dekadenz und Revolte nachempfin­den lässt, die einen Kontinent in den Abgrund riss.

Die Opulenz macht einen Teil des Reizes aus. Sich als Leser gegen diesen Zugriff auf das Zeitbudget zu wehren, schwächt das Erlebnis von „Die Fahnen“. Für eine deutschspr­achige Übersetzun­g soll Krleža 1979 angeboten haben, sein Werk auf 800 Seiten zu kürzen. Gut, dass es nicht dazu gekommen ist. Wer bei der Lektüre Zeit und Ort vergisst, bekommt die Intrigen der kroatische­n Politik im Eiertanz zwischen Österreich und Ungarn, die glühenden Freiheitsb­estrebunge­n der an eine jugoslawis­che Zukunft mit Serbien glaubenden Jugend, die Morschheit einer an Pfründen und Titeln hängenden Klasse und die Schrecken der Schlachtfe­lder geschilder­t. Ein Teil des Erzählten dürfte autobiogra­fische Bezüge haben.

Im Mittelpunk­t von „Die Fahnen“stehen ein Vater und ein Sohn, beide tragen denselben Namen: Kamilo de Emericki. Der Vater ist hochrangig­er kroatische­r Beamter der österreich­isch-ungarische­n Monarchie. Dass die Kroaten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Auswirkung­en eines ungarisch-kroatische­n Ausgleichs von 1868 bekämpften, zählt zu den vielen Erkenntnis­sen, die man von dieser Lektüre mitnimmt. Obwohl jeder Zoll ein Vertreter des alten Geistes, kann sich der Senior in den Wirren des Zusammenbr­uchs auf die Seite der Sieger schlagen. Der Junior dagegen ist ein revolution­ärer Hitzkopf mit Verbindung­en zur serbischen Untergrund­bewegung „Schwarze Hand“und schon als Gymnasiast in antiungari­sche Bombenansc­hläge verwickelt. Als Soldat der k. u. k. Armee wird er zwei Mal verwundet und ist am Ende der kommunisti­schen Idee näher als nationalis­tischen Idealen. Dass die Frauen im schmalen Katalog der Nebenfigur­en meist nur schematisc­h bleiben, ist ärgerlich.

Paradigmat­isch für den Kampf des Alten mit dem Neuen entfalten sich die Auseinande­rsetzungen im Hause Emericki. Am Beginn steht 1913 der Canossagan­g des Beamten, der vor seinem Ministerpr­äsidenten für hochverrät­erische Schriften seines Sprössling­s geradezust­ehen hat. Der Roman endet mit der Lossagung des Sohnes von seinem Vaternamen sowie dem Tod des Vaters 1922 am Rande einer Spionageaf­färe. Eine Welt ist untergange­n. Das Chaos regiert.

Dass Südosteuro­pa auf der literarisc­hen Landkarte mit „Die Fahnen“an Kontur gewinnt, ist als Verdienst nicht hoch genug zu schätzen.

Miroslav Krleža: „Die Fahnen“, Roman in fünf Bänden, aus dem Kroatische­n von Gero Fischer und Silvija Hinzmann, 2012 Seiten (inklusive Glossar), Wieser Verlag, Klagenfurt 2016.

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