Das liberale Amerika erwacht
Hunderttausende Demonstranten gaben dem neuen US-Präsidenten Kontra. Trump twittert: „Warum haben diese Leute nicht gewählt?“
WASHINGTON. Auf dem Weg zur CIA-Zentrale nach Langley auf der anderen Seite des Potomac in Virginia bekam US-Präsident Donald Trump am Samstag einen Eindruck von den historischen Massen an Demonstranten, die seine Ankunft im Weißen Haus mobilisierte. Als er in seiner Limousine an den Protestlern vorbeirauschte, war das Gejohle der Menge nicht zu überhören.
Gewiss kein freundliches Willkommen für den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, vor dessen Haustür an der 1600 Pennsylvania Avenue nach offiziellen Schätzungen über eine halbe Million Menschen vorbeimarschierten. In einer ersten Reaktion schrieb Trump am Sonntag auf Twitter: „Warum haben diese Leute nicht gewählt?“, und erweckte so den Eindruck, als halte er Demonstrationen nach einer erfolgten Wahl grundsätzlich für sinnlos. Etwa eine Stunde später fügte er hinzu: „Friedlicher Protest ist ein Markenzeichen unserer Demokratie. Auch wenn ich nicht immer einverstanden bin, akzeptiere ich das Recht der Menschen, ihren Ansichten Ausdruck zu verleihen.“
Die Großkundgebungen von Boston über New York und Chicago bis Los Angeles hinzugerechnet waren in den USA am Wochenende deutlich über 4,2 Millionen Menschen auf der Straße. Ein Rekord, der die bescheidene Teilnahme an den offiziellen Inaugurationsfeiern am Freitag in Washington in den Schatten stellt.
Doch statt auf die Ängste der Mehrheit der US-Amerikaner einzugehen, die ihn nicht gewählt hat, beschwerte sich Trump bei seinem Besuch in der CIA-Zentrale über die Presse. „Ich habe einen andauernden Krieg mit den Medien“, sagte er. „Es sind die unehrlichsten Menschen, die auf der Erde herumlaufen.“Die Medien würden absichtlich unterschlagen, dass seine Anhänger den Platz vor dem Kapitol bei seiner Vereidigung gefüllt hätten. Eine Aussage die unzweifelhaft falsch ist, wie Luftaufnahmen
„Minderheiten sind in Gefahr. Zeigt, dass ihr das nicht akzeptiert.“Madonna, beim Women’s March
belegen. Marcel Altenburg und Keith Still von der Manchester Metropolitan University haben Aufnahmen und verfügbare Daten analysiert und gehen von etwa 160.000 Trump-Anhängern aus. Das ist ein Drittel der Zahl der nach derselben Methode geschätzten Teilnehmer des Women’s March vom Samstag.
Diese Fakten hielten den neuen Sprecher des Weißen Hauses, Sean Spicer, nicht davon ab, kurzfristig die Reporter zu seinem ersten Briefing im Weißen Haus zusammenzutrommeln. Nachdem er eine Stunde auf sich warten ließ, geriet seine Premiere zu einem zornigen Monolog, bei dem er nebenbei den Besuch der britischen Premierministerin Theresa May am kommenden Freitag ankündigte. Entgegen allen Gepflogenheiten ließ Sprecher Spicer keine Fragen zu. „Bizarr und ohne Beispiel“, kommentierte ein Teilnehmer anschließend. Spicer wiederholte die nachweislich falsche Behauptung, Trump habe „das größte Publikum gehabt, das jemals einer Amtseinführung beiwohnte. Punkt.“Dann warnte er die Medien. „Wir werden die Presse rechenschaftspflichtig machen. “
Die Stimmung auf den Straßen der Hauptstadt, die sich Gegner und Anhänger Trumps am Wochenende teilten, war gereizt. Alfredo Dosil (36), der mit Ehefrau Marisol (34) aus dem US-Bundesstaat New Jersey nach Washington gekommen war, um seinen Töchtern Ariana und Sofia zu zeigen, wie viele Amerikaner nicht mit Trump übereinstimmen, erfuhr das am eigenen Leib. Während sie im SN-Interview ihre Ansichten darlegten, mischte sich ein wütender Trump-Anhänger ein. Statt die Einladung zum Gespräch anzunehmen, beschwerte er sich über die Medien. Seine nicht minder erregte Frau deutete Richtung Weißes Haus und fügte hinzu: „Das wird sich ändern. Da ist jetzt unser Mann drin.“
Kevin Seymour (44) war, wie viele der Teilnehmer an dem historischen Protest, nach Washington gekommen, um die Grundrechte der Vereinigten Staaten zu verteidigen gegen Angriffe auf die Pressefreiheit, auf die Rechte von Frauen und Minderheiten oder gegen das Infragestellen der NATO. „Er soll wissen, dass wir aufpassen“, sagte Seymour. Ähnlich sieht es Lea Smith (43), die aus Kalifornien angereist kam. „Wir werden nicht erlauben, dass man uns unsere Rechte wegnimmt“, sagt sie. „Das war erst der Anfang.“