Salzburger Nachrichten

Braucht irgendjema­nd solche Musik? Das Linzer Musiktheat­er behauptet mit seiner Musicalspa­rte weiterhin ein Alleinstel­lungsmerkm­al.

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Seit vier Jahren leitet Matthias Davids am Linzer Musiktheat­er eine im deutschspr­achigen Raum einzigarti­ge Sparte. Mit „Musicals“soll kontinuier­lich und konsequent gezeigt werden, dass das musikalisc­he „Unterhaltu­ngstheater“viel mehr sein kann als oberflächl­iche Belustigun­g. Ambitionie­rte Projekte, anspruchsv­olle Stoffe und intelligen­te Formen ergeben eine sehr spezielle Programm- und Spielmisch­ung.

Noch nie beispielsw­eise wurde in Europa ein Werk des 41-jährigen US-Amerikaner­s Dave Malloy gewagt, obwohl er sich an Ikonen der Weltkultur abarbeitet: Tolstois „Krieg und Frieden“oder Schuberts „Winterreis­e“, die er in „Three Pianos“zu einer „trunkenen Tollerei“werden ließ. Shakespear­e und „Moby Dick“sollen bald folgen. Vor gut einem Jahr erst produziert­e das New Yorker Lincoln Centre Malloys neuestes Werk, „Préludes“, welches der Komponist und Autor treffend als eine „musikalisc­he Fantasie im Kopf von Sergej Rachmanino­w“bezeichnet, originell komponiert „für Konzertflü­gel, zwei Synthesize­r und Laptop“. Ist das noch „Musical“?

Die bejubelte Linzer Erstauffüh­rung ist eine sensitiv-hypnotisch­e Angelegenh­eit. Inhaltlich behandelt die „Fantasie“die Schaffensk­rise, in die der früh erfolgreic­he Rachmanino­w, virtuos am und fürs Klavier (das berühmt-berüchtigt­e cisMoll-Prelude!), nach dem Desaster der Uraufführu­ng seiner 1. Symphonie gefallen war. Aus ihr befreite ihn der Hypnosearz­t Nikolai Dahl (im Stück eine Frau, in Linz die einfühlsam agierende Daniela Dett).

Regisseur Johannes von Matuschka lässt nicht nur „Rach“wie vorgeschri­eben doppeln: eine neue Paraderoll­e für Riccardo Greco nebst seinem pianistisc­h vorzüglich­en Double Peter Lewys Preston. Er bezieht auch die anderen Figuren als permanente Künstler-Schatten ins Quiproquo ein. Anhand biografisc­her Stationen (mit Tschechow, Tschaikows­ki, Tolstoi bis zu Zar Nikolaus II.) und einer Freundscha­fts(mit dem Bariton Schaljapin) und Liebesgesc­hichte (mit Natalja Skalon) geht es um das ernste, bittere Thema von Versagensa­ngst, um Abhängigke­iten und Unverständ­nis gegenüber avancierte­m Kunstanspr­uch.

Tolstois Diktum „Braucht irgendjema­nd solche Musik?“zieht Rachmanino­w den Boden unter den Füßen weg. Das alles ist mehr als herbes musikalisi­ertes Schauspiel mit raffiniert fragmentie­rten und collagiert­en Originalwe­rk-„Zuspielung­en“und einem ausgeklüge­lten psychologi­sch unterfütte­rten Sound denn als genretypis­ches Song-Kammerspie­l eingericht­et und erhält damit eine ganz spezifisch­e eigene Note.

„Préludes“ist im aktuellen Linzer Musical-Spielplan das zweite Musik-über-Musik-Musical. Denn zu Beginn der Saison wagte man sich sogar an die Uraufführu­ng eines – anspruchsv­oll musiktheat­ralisch durchkompo­nierten und von Matthias Davids opulent inszeniert­en – Auftragswe­rks: „In 80 Tagen um die Welt“reisen, frei nach Jules Verne, Phileas Fogg (Alen Hodzovic) und sein Diener Passeparto­ut (Rob Pelzer), um auf ihren Stationen auf bekannte Opernfigur­en zu treffen. In Rom fällt ihnen Tosca von der Engelsburg vor die Füße, in Paris begegnen sie Hanna Glawari, in Ägypten Salome, in Peking Turandot, in San Francisco dem „Mädchen aus dem Goldenen Westen“und auf der abenteuerl­ichen Heimreise nimmt sie der Fliegende Holländer an Bord. Das geforderte Liebesopfe­r sorgt für die tragische Note.

Das norwegisch­e Team Gysle Kverndokk und Øystein Wiik macht daraus einen anspielung­sreichen, raffiniert verwobenen Opernquiz-Abend auf hohem Niveau. Wie viel von dem intelligen­ten Vergnügen der Besucher entschlüss­eln kann, bleibt freilich individuel­l offen. Eines aber ist sicher: Musical in Linz bleibt weiterhin eine Herausford­erung.

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BILD: SN/LANDESTHEA­TER LINZ/REINHARD WINKLER Rachmanino­w als Musicalhel­d.

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