Salzburger Nachrichten

Kanadas Muslime haben Angst

In Kanada häufen sich seit einigen Jahren antiislami­sche Vorfälle. Der Anschlag auf eine Moschee war ein trauriger Höhepunkt.

- Barbara Perry, Universitä­t Ontario „Wer ist jetzt zu fürchten?“, fragt ein Teilnehmer bei der Trauerkund­gebung nach dem Anschlag in Québec.

Nach dem tödlichen Anschlag in Québec stehen viele Muslime in Kanada unter Schock und fürchten um ihre Sicherheit. „Viele von uns haben dieser Tage Angst, mehr als Angst“, berichtet Samer Majzoub, ein Finanzbera­ter aus Montréal. „Viele muslimisch­e Eltern überlegen sich jeden Morgen, ob sie ihre Kinder noch in die Schule schicken können. Wir hätten nie geglaubt, dass uns das in Kanada je passieren würde.“

Am Sonntag war ein Attentäter in eine Moschee in der Stadt Québec eingedrung­en, hatte sechs Männer erschossen und weitere zum Teil schwer verletzt. Angeklagt ist ein 27-jähriger frankokana­discher Student, der sich offenbar seit Längerem mit rechtem Gedankengu­t trug.

Kanada vertritt eine Politik der offenen Türen. Eine Haltung, die Premier Justin Trudeau auch nach der Tat nicht aufgeben will. „Dies war ein Angriff auf die innersten Werte Kanadas, die Werte der Offenheit, der Vielfalt und der Religionsf­reiheit. Wir werden dadurch nicht eingeschüc­htert.“

Samer Majzoub, der auch für einen muslimisch­en Interessen­verband tätig ist, lobte Trudeau zwar für seine Solidaritä­t und Glaubwürdi­gkeit. Zugleich wies er aber darauf hin, dass islamophob­e Vorfälle in Kanada gestiegen seien. Zwischen 2012 und 2014 hat sich die Zahl der antiislami­schen Hassverbre­chen laut Polizei fast verdoppelt, von 45 auf 99 im Jahr.

„Wir beobachten mehr gewalttäti­ge Attacken als früher. Leider ist die Hemmschwel­le gesunken“, berichtet Majzoub. Als Reaktion würden viele muslimisch­e Gotteshäus­er stärker überwacht, Gemeindemi­tglieder seien vorsichtig­er. Gebrochene Glasscheib­en, Schmierere­ien und verbale Ausfälle gehörten bei vielen Moscheen zum Alltag.

Für viele Muslime ist dies Folge der islamophob­en Rhetorik in Gesellscha­ft und Politik – vor allem in den USA, punktuell aber auch in Kanada. „Leider gibt es immer mehr Äußerungen, die Angst, Fremdenfei­ndlichkeit und Fanatismus verbreiten – um eines politische­n Vorteils willen“, klagt Amira Elghawaby vom Nationalve­rband der kanadische­n Muslime.

Der ehemalige Premiermin­ister Stephen Harper hatte etwa im Wahlkampf 2015 vorgeschla­gen, Bürger sollten sogenannte „barbarisch­e kulturelle Praktiken“über eine Hotline an den Staat melden. Eine der Kandidatin­nen für den Vorsitz der Konservati­ven wirbt derzeit mit der Forderung nach Gesinnungs­tests für Einwandere­r um die Stimmen islamophob­er Mitglieder.

Besonders verbreitet sind antiislami­sche Ressentime­nts im französisc­hsprachige­n Teil Kanadas. „Québec hat aufgrund seiner Historie und kulturelle­n Isolation besondere Probleme mit dem Islam“, meint Extremismu­s-Expertin Barbara Perry vom University of Ontario Institute of Technology. Eine Umfrage von 2013 kam zu dem Ergebnis, dass 69 Prozent der Québecer eine negative Meinung zum Islam haben, gegenüber 54 Prozent der Kanadier außerhalb Québecs.

Laut Perry ist Québec seit den Sechzigerj­ahren, als die katholisch­e Kirche in der Provinz ihre dominante Stellung verlor, die wohl säkularste Region in Kanada. Der Kampf um kulturelle Eigenständ­igkeit habe in Teilen der Bevölkerun­g nationalis­tische Reflexe entstehen lassen, die sich gegen alles Fremde und Nichtfranz­ösische richteten.

Verstärkt werden diese Probleme durch die Tatsache, dass Québec in den letzten Jahren einen deutlichen Zuzug von muslimisch­en Einwandere­rn zu verzeichne­n hatte. Der Bevölkerun­gsanteil der Muslime in Québec hat sich laut Statistikb­ehörde zwischen 1991 und 2011 annähernd verfünffac­ht. Gut drei Prozent aller Bewohner sind heute muslimisch­en Glaubens.

Nicht ganz zufällig war es die ehemalige separatist­ische Regierung von Pauline Marois, die 2014 den muslimisch­en Gesichtssc­hleier Niqab aus Teilen des öffentlich­en Lebens verbannen und eine Charta von „Québecer Werten“einführen wollte. Von vielen Muslimen, aber auch von anderen Minderheit­en wurde das als diskrimini­erend empfunden.

Muss das weltoffene Image Kanadas, das Premier Justin Trudeau unverdross­en pflegt, grundlegen­d korrigiert werden? Nicht so schnell, meint Perry. „Im internatio­nalen Vergleich geht es in Kanada weiterhin sehr gesittet zu, die liberalen Traditione­n sind uns quasi in den Genen und die Zivilgesel­lschaft ist stark. Allerdings dürfen wir unseren Kopf nicht vor den Problemen in den Sand stecken“, meint die Expertin.

Amira Elghawaby vom Nationalve­rband der Muslime ist ermutigt von der Welle an Solidaritä­t, die derzeit durch Kanada rollt. Zehntausen­de haben an Mahnwachen teilgenomm­en und Flagge gezeigt für das tolerante und bunte Kanada. „Viele Muslime trösten sich mit der Liebe und Unterstütz­ung aus dem ganzen Land. Gemeinsam werden wir den Hass besiegen.“

„Québec hat wegen seiner Geschichte die größten Probleme mit dem Islam.“

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BILD: SN/RYAN REMIORZ / PA / PICTUREDES­K.COM

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