Einmal richtig in die Vollen gehen
Juliette Binoche steht sonst für noble Zurückhaltung. Aber in „Die feine Gesellschaft“dreht sie einmal richtig auf.
WIEN. Frankreich, 1910: Die großbürgerliche Familie Van Peteghem sommerfrischelt am windigen Strand von Pas-de-Calais, während die örtlichen Muschelsammler malerisch im Schlamm herumstehen und Urlauber über Drecklacken tragen. Bis sich das Kind der degenerierten Bürgersfamilie in das Kind eines Fischers verliebt.
Kannibalismus, Inzucht, Genderfragen, Klassenkampf und ein fliegender Kriminalinspektor – „Die feine Gesellschaft“von Bruno Dumont ist so gestaltet, als hätte Luis Buñuel schlecht geträumt. Inmitten des Chaos spielt Juliette Binoche eine bemerkenswert unfeine Dame.
SN: Wie gut müssen Sie eine Figur beim Lesen des Drehbuchs verstehen, um einem Filmprojekt zuzusagen?
Binoche: Bei dieser Figur habe ich gar nicht erst versucht, sie zu verstehen, ich hatte kaum Zeit dafür, weil ich bis unmittelbar davor noch am Theater „Antigone“von Sophokles gespielt habe. Das hat Bruno Dumont gut gefallen, weil ich ja auch im Film so etwas wie eine Schauspielerin darstelle, die Tragödien aufführt, auf eine gezwungene Art. Bruno hat mir gesagt: „Benimm dich genauso wie auf der Bühne!“Das habe ich zwar nicht gemacht, aber ihm hat es trotzdem gepasst.
SN: Sie spielen hier eine speziell exaltierte Person. Hat Bruno Dumont Ihnen irgendwelche Grenzen gesetzt?
Im Gegenteil, ich sollte alles geben, das waren die Anweisungen. Ich habe gar nicht versucht, den richtigen Ton zu finden, ich habe mich einfach hineinfallen lassen mit allem, was ich habe. Die Idee für mich war, die Gefühle im Hintergrund gar nicht unbedingt zu verstehen, sondern mit der Fantasie und dem Irrsinn dieser Familie einfach mitzugehen, mit den Widersprüchen und Ängsten und Bedürfnissen und Ablehnungen, die Komplexität der Beziehung zu meinem Kind, all diese Dinge. Bruno hat mich dazu angestachelt, da richtig in die Vollen zu gehen und viel Platz einzunehmen. Meine Tendenz ist es normalerweise, mich zurückzunehmen, die Kamera kommt eher zu mir, als dass ich auf die Kamera zugehe, aber er hat mich angetrieben, die anderen richtig zu provozieren.
SN: Wie Sie sagen, spielen Sie sonst oft ganz anders. War es schwierig, so loszulassen?
Oh, ich probiere gern unterschiedliche Dinge aus, zum Beispiel Tanz, das hat immer auch etwas mit aus sich herausgehen zu tun, und jetzt habe ich gerade einen Science-Fiction-Film abgedreht, „Ghost in The Shell“, auch das war eine völlig neue Welt für mich. Mein Vater war ein Pantomime, er hat mit Masken gearbeitet. Ich habe es als kleines Mädchen geliebt, ihn zu beobachten und zu imitieren. Ich wollte an seiner Stelle sein und die Leute zum Lachen bringen. Ich war immer eher extrovertiert und ich habe erst an der Theaterschule gelernt, mit meinem Inneren zu arbeiten. Es hat Spaß gemacht, hier zu meinem ursprünglichen Impuls beim Spielen zurückzukehren. Ich habe mit wachsender Erfahrung immer weniger Angst, lächerlich zu wirken, und das ist unglaublich befreiend.
SN: Haben Sie mit der Figur jemanden porträtiert, den Sie kennen?
Nun, ich kenne die französische Bourgeoisie, also habe ich Dinge verwendet, die mir bei denen aufgefallen sind. Und ich mache mich auch über mich selbst lustig, über mein Image als Dramaschauspielerin oder tragische Schauspielerin, darüber, dass ich gern davon rede, spirituell zu sein, oder Komplexitäten ausdrücken will – über all das lache ich mit diesem Film.
SN: Sie haben einmal in einem Interview geklagt, dass Ihre Kinder sich nicht für Ihre Arbeit interessieren. Gilt das auch für Filme wie „Godzilla“(2014), oder jetzt „Ghost in the Shell“?
Oh, „Ghost in the Shell“werden sie sicher sehen, weil die beiden mich überhaupt erst drauf gebracht haben, bei dem Film mitzumachen. Das war übrigens das zweite Mal, dass sie mir einen Karrieretipp gegeben haben. Das erste Mal war natürlich „Godzilla“.
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