Salzburger Nachrichten

Einmal richtig in die Vollen gehen

Juliette Binoche steht sonst für noble Zurückhalt­ung. Aber in „Die feine Gesellscha­ft“dreht sie einmal richtig auf.

- Film: Die feine Gesellscha­ft. Groteske, Deutschlan­d/Frankreich 2016. Regie: Bruno Dumont. Mit Juliette Binoche, Fabrice Luchini,Valeria Bruni Tedeschi. Start: 3. 2.

WIEN. Frankreich, 1910: Die großbürger­liche Familie Van Peteghem sommerfris­chelt am windigen Strand von Pas-de-Calais, während die örtlichen Muschelsam­mler malerisch im Schlamm herumstehe­n und Urlauber über Drecklacke­n tragen. Bis sich das Kind der degenerier­ten Bürgersfam­ilie in das Kind eines Fischers verliebt.

Kannibalis­mus, Inzucht, Genderfrag­en, Klassenkam­pf und ein fliegender Kriminalin­spektor – „Die feine Gesellscha­ft“von Bruno Dumont ist so gestaltet, als hätte Luis Buñuel schlecht geträumt. Inmitten des Chaos spielt Juliette Binoche eine bemerkensw­ert unfeine Dame.

SN: Wie gut müssen Sie eine Figur beim Lesen des Drehbuchs verstehen, um einem Filmprojek­t zuzusagen?

Binoche: Bei dieser Figur habe ich gar nicht erst versucht, sie zu verstehen, ich hatte kaum Zeit dafür, weil ich bis unmittelba­r davor noch am Theater „Antigone“von Sophokles gespielt habe. Das hat Bruno Dumont gut gefallen, weil ich ja auch im Film so etwas wie eine Schauspiel­erin darstelle, die Tragödien aufführt, auf eine gezwungene Art. Bruno hat mir gesagt: „Benimm dich genauso wie auf der Bühne!“Das habe ich zwar nicht gemacht, aber ihm hat es trotzdem gepasst.

SN: Sie spielen hier eine speziell exaltierte Person. Hat Bruno Dumont Ihnen irgendwelc­he Grenzen gesetzt?

Im Gegenteil, ich sollte alles geben, das waren die Anweisunge­n. Ich habe gar nicht versucht, den richtigen Ton zu finden, ich habe mich einfach hineinfall­en lassen mit allem, was ich habe. Die Idee für mich war, die Gefühle im Hintergrun­d gar nicht unbedingt zu verstehen, sondern mit der Fantasie und dem Irrsinn dieser Familie einfach mitzugehen, mit den Widersprüc­hen und Ängsten und Bedürfniss­en und Ablehnunge­n, die Komplexitä­t der Beziehung zu meinem Kind, all diese Dinge. Bruno hat mich dazu angestache­lt, da richtig in die Vollen zu gehen und viel Platz einzunehme­n. Meine Tendenz ist es normalerwe­ise, mich zurückzune­hmen, die Kamera kommt eher zu mir, als dass ich auf die Kamera zugehe, aber er hat mich angetriebe­n, die anderen richtig zu provoziere­n.

SN: Wie Sie sagen, spielen Sie sonst oft ganz anders. War es schwierig, so loszulasse­n?

Oh, ich probiere gern unterschie­dliche Dinge aus, zum Beispiel Tanz, das hat immer auch etwas mit aus sich herausgehe­n zu tun, und jetzt habe ich gerade einen Science-Fiction-Film abgedreht, „Ghost in The Shell“, auch das war eine völlig neue Welt für mich. Mein Vater war ein Pantomime, er hat mit Masken gearbeitet. Ich habe es als kleines Mädchen geliebt, ihn zu beobachten und zu imitieren. Ich wollte an seiner Stelle sein und die Leute zum Lachen bringen. Ich war immer eher extroverti­ert und ich habe erst an der Theatersch­ule gelernt, mit meinem Inneren zu arbeiten. Es hat Spaß gemacht, hier zu meinem ursprüngli­chen Impuls beim Spielen zurückzuke­hren. Ich habe mit wachsender Erfahrung immer weniger Angst, lächerlich zu wirken, und das ist unglaublic­h befreiend.

SN: Haben Sie mit der Figur jemanden porträtier­t, den Sie kennen?

Nun, ich kenne die französisc­he Bourgeoisi­e, also habe ich Dinge verwendet, die mir bei denen aufgefalle­n sind. Und ich mache mich auch über mich selbst lustig, über mein Image als Dramaschau­spielerin oder tragische Schauspiel­erin, darüber, dass ich gern davon rede, spirituell zu sein, oder Komplexitä­ten ausdrücken will – über all das lache ich mit diesem Film.

SN: Sie haben einmal in einem Interview geklagt, dass Ihre Kinder sich nicht für Ihre Arbeit interessie­ren. Gilt das auch für Filme wie „Godzilla“(2014), oder jetzt „Ghost in the Shell“?

Oh, „Ghost in the Shell“werden sie sicher sehen, weil die beiden mich überhaupt erst drauf gebracht haben, bei dem Film mitzumache­n. Das war übrigens das zweite Mal, dass sie mir einen Karriereti­pp gegeben haben. Das erste Mal war natürlich „Godzilla“.

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Bemerkensw­ert unfein und sichtlich vergnügt spielt Juliette Binoche in „Die feine Gesellscha­ft“.

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