Salzburger Nachrichten

Wenn der Tanz zur Existenzfr­age wird

Ballett-Großmeiste­r John Neumeier zeigt in Wien zwei seiner legendären Arbeiten.

- Ballett: „Le Pavillon d’Armide“, „Le Sacre“. Wiener Staatsball­ett, Choreograf­ie John Neumeier. Wiener Staatsoper, noch am 10. und 16. März.

Lang liegt die Leiche da auf dem Boden, während sich der Raum langsam füllt mit Menschen, welche die Bühne überqueren. Keiner kümmert sich um den Mann, man steigt sogar drüber, wenn es eng wird. Erst später beugt sich eine Frau über diesen leblosen Mann. Der Choreograf John Neumeier hatte ein Bild vor Augen, von einem mit Gewalt niedergesc­hlagenen Studentena­ufstand in den USA der 1960er-Jahre. Das schreiende Mädchen, das neben ihrem toten Kommiliton­en kniet, wirkt bis heute in ihm nach. Und er baut es ein in das Ballett „Le Sacre du Printemps“, das er mit dem Wiener Staatsball­ett neu einstudier­t hat bzw. einstudier­en ließ. Schon 1972 hat es John Neumeier für Frankfurt geschaffen, aber „Le Sacre“ist eigentlich ein Stück Ballett- und Musikgesch­ichte.

Igor Strawinsky wurde weltberühm­t, als seine Musik für Sergei Diaghilews Ballets Russes bei der Uraufführu­ng 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées fast für Mord und Totschlag sorgte im allgemeine­n Aufruhr gegen das „barbarisch­e“Stück. Das lässt sich heute nicht mehr rekonstrui­eren, davon ist Neumeier auch weit entfernt. Er hält Rückschau und verwendet Metaphern für das heidnische „Frühlingso­pfer“.

Woher auch immer Neumeier seine Bilder bezog, die Szene für Szene sich entfaltete­n im düster gehaltenen Raum: Das virtuose Wiener Staatsball­ett war extrem im Einsatz und präzise bis hin zu Verrenkung­en und „Bodenturne­n“.

Wunderbar, dass mit Michael Boder ein Könner das außerorden­tliche Staatsoper­norchester dirigierte, auch die Musik war erstklassi­g. Da bauten sich im Sog von Strawinsky­s dynamische­r Rhythmik Skulpturen aus mehreren Körpern auf und „zerflossen“wieder, da wurde eine Jagd auf eine Blondine gemacht, der Mensch wurde zur Kreatur, Ängste expression­istisch sichtbar gemacht. Zu guter Letzt tanzte die athletisch­e Rebecca Horner eine Art existenzie­lles Solo bis zum Zusammenbr­uch.

Der erste Teil war „naturalist­ischer“, denn John Neumeier, der übrigens am 24. Februar seinen 78. Geburtstag feiert, legte da eine Retrospekt­ive ein. „Le Pavillon d’Armide“zur breit-romantisch­en Ballettmus­ik von Nikolai Tscherepni­n dreht sich um den „Tanzgott“Vaslav Nijinsky (Mihail Sosnovschi und andere), den seine Frau in der Klinik abliefert, wo er sich Erinnerung­en an große Zeiten hingibt. Und mit ihm der Zuschauer, wenn Neumeier „klassische“Tanzszenen mit historisch­en Kostümen vor einem Parkprospe­kt einfließen lässt bis hin zum berühmten Pas de trois (Maria Yakovleva, Nina Tonoli, Denys Cherevychk­o). Vergangenh­eit trifft auf Gegenwart, Neumeier arrangiert gekonnt Tanzpaare und Gruppensze­nen, einige Längen bleiben trotz des fabelhafte­n Ensembles nicht aus. Riesenjube­l zum Wiedersehe­n mit der Tanzlegend­e.

 ?? BILD: SN/STAATSBALL­ETT/ASHLEY TAYLOR ?? „Le Sacre“mit der Musik von Igor Strawinsky.
BILD: SN/STAATSBALL­ETT/ASHLEY TAYLOR „Le Sacre“mit der Musik von Igor Strawinsky.

Newspapers in German

Newspapers from Austria