Wenn der Tanz zur Existenzfrage wird
Ballett-Großmeister John Neumeier zeigt in Wien zwei seiner legendären Arbeiten.
Lang liegt die Leiche da auf dem Boden, während sich der Raum langsam füllt mit Menschen, welche die Bühne überqueren. Keiner kümmert sich um den Mann, man steigt sogar drüber, wenn es eng wird. Erst später beugt sich eine Frau über diesen leblosen Mann. Der Choreograf John Neumeier hatte ein Bild vor Augen, von einem mit Gewalt niedergeschlagenen Studentenaufstand in den USA der 1960er-Jahre. Das schreiende Mädchen, das neben ihrem toten Kommilitonen kniet, wirkt bis heute in ihm nach. Und er baut es ein in das Ballett „Le Sacre du Printemps“, das er mit dem Wiener Staatsballett neu einstudiert hat bzw. einstudieren ließ. Schon 1972 hat es John Neumeier für Frankfurt geschaffen, aber „Le Sacre“ist eigentlich ein Stück Ballett- und Musikgeschichte.
Igor Strawinsky wurde weltberühmt, als seine Musik für Sergei Diaghilews Ballets Russes bei der Uraufführung 1913 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées fast für Mord und Totschlag sorgte im allgemeinen Aufruhr gegen das „barbarische“Stück. Das lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, davon ist Neumeier auch weit entfernt. Er hält Rückschau und verwendet Metaphern für das heidnische „Frühlingsopfer“.
Woher auch immer Neumeier seine Bilder bezog, die Szene für Szene sich entfalteten im düster gehaltenen Raum: Das virtuose Wiener Staatsballett war extrem im Einsatz und präzise bis hin zu Verrenkungen und „Bodenturnen“.
Wunderbar, dass mit Michael Boder ein Könner das außerordentliche Staatsopernorchester dirigierte, auch die Musik war erstklassig. Da bauten sich im Sog von Strawinskys dynamischer Rhythmik Skulpturen aus mehreren Körpern auf und „zerflossen“wieder, da wurde eine Jagd auf eine Blondine gemacht, der Mensch wurde zur Kreatur, Ängste expressionistisch sichtbar gemacht. Zu guter Letzt tanzte die athletische Rebecca Horner eine Art existenzielles Solo bis zum Zusammenbruch.
Der erste Teil war „naturalistischer“, denn John Neumeier, der übrigens am 24. Februar seinen 78. Geburtstag feiert, legte da eine Retrospektive ein. „Le Pavillon d’Armide“zur breit-romantischen Ballettmusik von Nikolai Tscherepnin dreht sich um den „Tanzgott“Vaslav Nijinsky (Mihail Sosnovschi und andere), den seine Frau in der Klinik abliefert, wo er sich Erinnerungen an große Zeiten hingibt. Und mit ihm der Zuschauer, wenn Neumeier „klassische“Tanzszenen mit historischen Kostümen vor einem Parkprospekt einfließen lässt bis hin zum berühmten Pas de trois (Maria Yakovleva, Nina Tonoli, Denys Cherevychko). Vergangenheit trifft auf Gegenwart, Neumeier arrangiert gekonnt Tanzpaare und Gruppenszenen, einige Längen bleiben trotz des fabelhaften Ensembles nicht aus. Riesenjubel zum Wiedersehen mit der Tanzlegende.