„Ich habe das Leben ja noch!“
Im Alter zeigen sich große Linien des Lebens. Was tut sich Neues, außer Beschwerlichkeiten?
Ein SN-Gespräch mit dem Psychotherapeuten und Frankl-Schüler Uwe Böschemeyer über das Leben im Alter und darüber hinaus.
SN: Auf dem Cover Ihres neuen Buchs ist eine Schildkröte zu sehen, ein Symbol für Weisheit und für Langsamkeit. Was trifft auf das Alter mehr zu? Böschemeyer: Vermutlich die Langsamkeit. Sollte die Weisheit überwiegen, dann deshalb, weil wir uns auf das Alter gut eingestellt hätten. Die körperlichen Beschwerden kommen bestimmt auch, das weiß ich von mir selbst. Trotzdem fühle ich mich selbst mit 78 Jahren in meinem Leben besser denn je.
SN: Worin besteht die Weisheit, die sich im Leben ansammelt? Es geht beim Altern nicht nur um das Älterwerden, sondern immer auch um Erneuerung, Entwicklung und Wandlung. Anders gesprochen: Es kommt immer darauf an, ob ich zu meinem Leben Ja sage, was immer auf mich zukommt. Ob ich begreife, dass nicht so sehr die Umgebung mein Leben bestimmt, sondern das, was ich daraus mache.
SN: Wird es mit dem Alter schwieriger, dieses Ja zu sagen? Wenn die Beschwerden auftreten, wenn die Einsamkeit kommt, wenn das soziale Umfeld unfreundlich ist, kann es schwieriger werden. Aber jede Lebensphase hat ihren eigenen Wert und ihre eigene Herausforderung! Ich möchte jetzt, da ich älter bin, nicht mit einer anderen Lebensphase tauschen. SN: Was ist der Wert des Alters? Die Sinneswahrnehmungen nehmen oft ab, die Details im Leben treten zurück, aber es kommen die großen Linien heraus, das Wesentliche und Wichtige. Es ist nicht alles gleich gültig. Das Leben kann im Alter großzügiger werden.
SN: Negativ wäre Alterssturheit. Meine Leitfrage ist: Worauf sehe ich? Auf das, was mich stur macht, oder auf das, was mir Weisheit vermitteln kann? Sehe ich primär auf Krankheit und Gebrechen, oder sehe ich darauf, wie ich gelassener werden, wie mein Denken konzentrierter, wie ich mich innerlich so sammeln kann, wie es mir früher vielleicht nie möglich war.
SN: Sitzt das Bewusstsein, dass die Jahre wenig werden, nicht doch ständig im Nacken? Ja, das sitzt mir schon manchmal im Nacken. Die Frage, wie viele Jahre mir noch verbleiben, lässt ein durchaus mulmiges Gefühl aufkommen. Ich frage deshalb danach, was nach dem Leben kommt. Ist Tod nur Tod oder ist Tod Durchgang in ein größeres Leben? Dadurch, dass ich mich dieser Frage zuwende, verringert sich bereits das mulmige Gefühl, jedenfalls ein Stück weit.
SN: Sie finden in dem Gedanken, was nach dem Tod kommen mag, etwas Tröstliches? Wir wissen nicht, was der Tod uns bringt. Ich kann weder wissen, dass es danach aus ist, noch dass das Paradies kommt. Es kann aber sein, dass der Tod die letzte neue Hoffnung ist, dass es eine Überraschung gibt, von der wir nichts wissen. SN: Der Tod ist Anfechtung und Hoffnung zugleich? Ja, das ist schön gesagt. Es ist wichtig, dass ich mich nicht auf einen Gedanken über den Tod versteife. Ich muss offen bleiben.
SN: Wie geht es Ihnen mit der Angst vor einem mühseligen, schmerzhaften Sterben? Natürlich schreckt mich manchmal der Gedanke, dass ich z. B. bettlägerig werde. Dagegen hilft mir, dass ich viel arbeite – und der Gedanke, dass ich noch lebe und deshalb Sinn in meinem Leben hier und heute suchen kann.
SN: Wovon haben Sie sich schwer verabschieden können? Es ist eine Weisheit des Alters, dass es wichtig ist, von Stufe zu Stufe etwas loszulassen. Das geht nur, indem ich zurückblicke: Was ist gelungen, was nicht?
Noch wichtiger aber ist: Der Mensch ist ein Wesen auf der Suche nach Sinn (Frankl). Und diese Suche hört erst vor dem Sarg auf. Wie der Mensch einzigartig und einmalig ist, so sind es auch die Lebenssituationen, durch die er hindurchgeht. Es ist eine Sache der Wahrnehmung, das zu sehen, was an Neuem auf mich zukommt. Ich habe das Leben ja noch! Es liegt an mir, was ich daraus mache. C. G. Jung wurde einmal gefragt, was alte Menschen noch tun könnten. Er sagte, es gibt immer etwas Neues, das vor uns liegt. Wer nur zurückschaut, erstarrt wie die Frau von Lot in der Bibel zur Salzsäule.