Deutsche schreiben unsere Geschichte
Die „Germanisierung“des Wissenschaftsbetriebs hat ungeahnte Nebenwirkungen. Die Zeitgeschichte könnte zur Domäne von Wissenschaftern werden, die in österreichischer Geschichte nicht sattelfest sind.
„Rektorinnen und Rektoren sind gefordert.“Oliver Rathkolb, Zeithistoriker Uni Wien
Es war ein sehr ungewöhnlicher Schritt, den der renommierte Historiker Pieter Judson von der Europa-Universität in Florenz da setzte: Als einer von drei Gutachtern für die Nachbesetzung des Lehrstuhls für Zeitgeschichte in Graz legte er seinen Auftrag aufgrund des Auswahlverfahrens aus Protest zurück. Denn: Es hätte „weitaus kompetentere Historiker unter den Bewerbern, darunter Österreicher“, gegeben, sagte er Ende Jänner zum „profil“. Und: Die Auswahl der zuständigen Kommission schade dem guten Ruf der Grazer Zeitgeschichte.
Judsons Empörung zieht weite Kreise. Es geht um die Frage, wie es um die heimische Zeitgeschichte bestellt ist. In Graz war unter sieben zum Hearing eingeladenen Wissenschaftern (es hatte mehr als 60 Bewerber gegeben) kein hochkarätiger Österreicher, dafür überwiegend deutsche Historiker, die kaum oder gar nicht einschlägig publiziert haben und deren Berufungsvorträge sich mit spannenden, aber teils sehr speziellen Themen befasst hatten („Greenpeace im Visier Frankreichs“zur Versenkung der Rainbow Warrior in den 1980er-Jahren; oder die Rolle eines nur Eingeweihten geläufigen deutschen Autors als Ehe- und Familienberater im „Dritten Reich“und nach 1945).
Ist die Zeitgeschichte in Gefahr, eine Domäne von Wissenschaftern zu werden, die in österreichischer Geschichte gar nicht sattelfest sind? Müssen sie das überhaupt sein? Und: Ist die angestrebte Internationalisierung der Unis im Grunde nur eine „Germanisierung“?
„Wenn man sich die Entwicklung der Zeitgeschichte in den letzten zehn, 15 Jahren anschaut, ist es Fakt, dass durch die Neuberufungen zwar der internationale Bereich gestärkt wurde – aber nur aus Perspektive des deutschen Wissenschaftsraums“, sagt Oliver Rathkolb, renommierter Leiter des Wiener Zeitgeschichte-Instituts. Das bedeute mitunter, dass der Forschungsschwerpunkt nicht mehr auf österreichischer Geschichte liege, was vor allem für angehende Lehrer im Studium zum Problem werde. Denn laut Lehrplänen müssten sie später zu einem erheblichen Teil österreichische Geschichte unterrichten – die aber an den Unis weniger durch Professoren gelehrt werde. „Die Unis bekommen ja auch einen großen Budgetanteil für die Lehrerausbildung.“Wenn also etwa nur noch Dozenten Österreichs Zeitgeschichte lehrten, könnte sich das Wirtschaftsministerium eines Tages zu Recht fragen, warum man so viel Geld dafür bereitstelle.
Laut Rathkolb sind die Rektorinnen und Rektoren gefordert. Etwa durch präzisere Professur-Ausschreibungen, die auch auf die konkrete Lehrerausbildung Rücksicht nehmen: „Ich muss als Professor der Zeitgeschichte einfach in der Lage sein, eine Vorlesung zu Österreich im 20. Jahrhundert anzubieten.“Mit der Nachbesetzung in Graz hätten nur noch zwei der sechs Zeitgeschichte-Lehrstühle (Wien und Innsbruck) einen klaren Fokus auf heimische und internationale Geschichte. Dass renommierte österreichische Kollegen nicht einmal zum Hearing in Graz geladen wurden, sei „erstaunlich“. Ebenso, dass der Einwand von Gutachter Judson „einfach vom Tisch“gewischt werde. Wenn so gravierende Kritik komme, müssten Dekan und Rektorin „sofort eingreifen“, sagt er.
Die Grazer Rektorin meldete sich nun erstmals via APA zu Wort. Man habe die Professur bewusst allgemein ausgeschrieben, sagt Christa Neuper. Auch in der Zeitgeschichte dürfe der Blick „auf eine internationalisierte Welt nicht verloren gehen“. Die Sorge, dass österreichische Geschichte künftig nicht mehr genug vermittelt werde, teile sie nicht. Denn die habe in Graz aus gewachsener Tradition einen Schwerpunkt. Angstmache vor einer „Germanisierung“gehe für sie zudem „weit an einer sachlichen Kritik vorbei“, sagt sie. An der Geisteswissenschaftlichen Fakultät Graz sind 25 von 35 Professorenstellen international besetzt, 19 davon mit Deutschen. Besetzt werde nach Qualifikation, betont die Rektorin.
Das sei eben gerade zuletzt nicht passiert, kontert Heidemarie Uhl von der Akademie der Wissenschaften, die sich auch beworben hatte. Hier von „Germanophobie“oder Provinzialismus zu sprechen sei ein Totschlagargument. – Viele stimmt die Debatte nachdenklich. Auch Helmut Wohnout, Dozent für österreichische Geschichte. Mit der Grazer Berufungscausa werde publik, was in der Community schon länger „für Unbehagen“sorge.
Die Zahl internationaler Professoren in Österreich steigt stetig, mehr als ein Viertel der Neuen kam 2014 aus Deutschland. Schon wegen der Größe, der Sprache und Nähe gibt es für jede ausgeschriebene Stelle sehr viele Bewerber aus dem Nachbarland. Der frühere Wissenschaftsminister Töchterle verwies schon vor Jahren darauf, betonte aber, dass die neu berufenen Professoren aus Deutschland „in der Regel sehr gut qualifiziert“seien.
Laut einem aktuellen Bericht der Universitätenkonferenz kann eine „Germanisierung“der Unis „nicht vom Tisch gewischt“werden. 45 Prozent des internationalen Wissenschafts-Personals kommt aus Deutschland, der Gesamtanteil liegt bei elf Prozent (4269). Umgekehrt sind 2252 Österreicher an deutschen Unis. Allerdings: Umgelegt auf die Bevölkerungszahlen Österreichs und Deutschlands relativiere sich das Bild deutlich, heißt es.
Für Uhl liegt die Qualitätssicherung bei Bestellungsverfahren generell im Argen. „Was passiert an den autonomen Universitäten?“, fragt sie. Wo vorher das Ministerium das letzte Wort hatte, sind seit 2002 die Unis selbst am Zug – Transparenz gebe es aber keine. „Das war ein Schritt vom aufgeklärten Absolutismus zum provinziellen Feudalismus“, sagt sie. In der Praxis gebe es eine große „Grauzone“. In Graz liegt laut Rektorin Neuper unterdessen ein Dreiervorschlag vor. Wann die Berufung erfolgt, ist offen. Fix ist nur: Österreicher kann’s keiner werden.