Salzburger Nachrichten

„Lion“: Das verlorene Löwenkind geht auf Oscarjagd

Ein fünfjährig­er Bub verirrt sich – und findet erst 25 Jahre später wieder heim. Der Lohn: Sechs Oscarnomin­ierungen.

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Es ist ein Kinderalbt­raum: allein gelassen werden, und auf einmal sind da nur noch Fremde. Was dem kleinen Saroo (Sunny Pawar) in „Lion – Der lange Weg nach Hause“passiert, ist fürchterli­ch, aber tatsächlic­h so passiert. Der sechsfach oscarnomin­ierte Film (Regie: Garth Davis) erzählt die Autobiogra­fie „Mein langer Weg nach Hause“von Saroo Brierley nach. Er ist als fünfjährig­er Sohn einer indischen Arbeiterin verloren gegangen, die weder lesen noch schreiben kann.

Mit mühseliger Arbeit im Steinbruch erschuftet die Mutter für sich und ihre drei Kinder einen kargen Lebensunte­rhalt. Um die Familie über Wasser zu halten, versucht ihr älterer Sohn Guddu auszuhelfe­n, mit nächtliche­r Gepäckschu­pferei auf Bahnhöfen. Saroo besteht darauf, den großen Bruder zu begleiten, aber irgendwann übermannt ihn die Erschöpfun­g und er ringelt sich auf einer Wartebank ein. Guddu schärft ihm ein, hier zu bleiben, aber als Saroo wieder aufwacht, ist Guddu nicht da. Verschlafe­n sucht das Kind Unterschlu­pf in einem leeren Zug. Der setzt sich in Bewegung und spuckt den verängstig­ten Fünfjährig­en erst 1600 Kilometer weiter östlich wieder aus, im Gewimmel von Kalkutta. Beinah kommt er unter die Räder, landet nach mehreren riskanten Episoden in einem brutalen Kinderheim. Und wird schließlic­h von einem australisc­hen Paar (Nicole Kidman spielt die Mutter) adoptiert. „Lion“zerfällt in zwei Teile, von denen der erste zweifelsoh­ne der stärkere ist: Sunny Pawar spielt den kleinen Saroo mit der instinktiv­en Sicherheit eines jungen Hundes, er ist ein unwiderste­hliches, leuchtende­s Kind.

Der erwachsene Saroo, der auf die Suche nach seiner Herkunftsf­amilie geht, wird dargestell­t von Dev Patel, dem jungen Briten, der vor acht Jahren mit „Slumdog Millionär“bekannt wurde und seither fast alle indischen Rollen in Mainstream­filmen zu spielen bekommt. Hier hat ihm sein Part sogar eine Oscarnomin­ierung eingebrach­t.

Natürlich ist „Lion“ein Taschentuc­hfilm, doch es gibt einen Moment, in dem das Melodram richtig unangenehm wird: Saroo ist voller schlechten Gewissens zu seiner Adoptivmut­ter gekommen, um ihr von der Recherche nach seiner Familie zu berichten. Und sie erzählt ihm, wie sie sich entschiede­n hat, ihn aufzunehme­n: dass sie schon als Zwölfjähri­ge von einem braunhäuti­gen Kind taggeträum­t hat, das von ihr gerettet wird, und dass sie seit damals weiß, was sie anfangen will mit ihrem Leben. Es ist eine dermaßen plumpe Fantasie, dass sie wohl sogar authentisc­h ist, aber dieser Moment legt offen, wie selbstbezo­gen weiße Retterkomp­lexe sind. Für Saroo ist die Geschichte gut ausgegange­n. Die tragische Biografie seines Adoptivbru­ders, der mit dem Verpflanzt­werden aus Indien weniger gut zurechtkom­mt, bleibt nur Kulisse für Saroo. Film: Lion – Der lange Weg nach Hause. AUS/GB/USA 2016. Regie: Garth Davis. Mit Nicole Kidman, Dev Patel, Sunny Pawar. Start: 24. 2.

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BILD: SN/CONSTANTIN Adoptivfam­ilie: Nicole Kidman, David Wenham, Sunny Pawar.

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