Salzburger Nachrichten

Musiker sind auch Menschen

Zwei Kulturinst­itutionen werden unter die Lupe genommen. Für 175 Jahre Wiener Philharmon­iker braucht man zwei Bände, ein paar (kritische) Jahre Staatsoper sollen auf drei Bände anwachsen.

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Die sogenannte Promidicht­e im Mahlersaal der Wiener Staatsoper war am Montagaben­d enorm, dabei ging es um eine Buchpräsen­tation. Allerdings umfassen die zwei Bände, die der französisc­he Kritiker und Autor Christian Merlin vorstellte, 175 Jahre, also die gesamte Geschichte der Wiener Philharmon­iker. Da saßen natürlich Legenden im Saal, von pensionier­ten Philharmon­ikern wie Walter Barylli (wurde 1938 Philharmon­iker) bis zu Clemens Hellsberg, der nicht nur Vorstand war, sondern als Autor eines Standardwe­rks („Demokratie der Könige“) bis heute Anlaufstel­le für Historiker ist. Dass dazu Freunde wie die Sänger Kurt Rydl und Heinz Zednik oder die Schauspiel­erin Andrea Jonasson aufmerksam lauschten, machte die Veranstalt­ung geradezu familiär. Am Podium saßen Hausherr Dominique Meyer und Philharmon­iker-Vorstand Andreas Großbauer und natürlich Christian Merlin. Merlins Fleiß erstaunt, er erforschte für den zweiten Band 851 Biografien; jene von den lebenden Musikern wurden zusätzlich authorisie­rt. Insgesamt ist es die Stärke des aufschluss­reichen Werks, dass der Mensch aus dem „anonymisie­rten“Kollektiv in den Vordergrun­d gerückt wird. Merlin – als „Le Figaro“-Kritiker dem lebendigen Stil zugewandt – holt auch anhand von Anekdoten einzelne Persönlich­keiten vor den Vorhang und baut sie in die spannende Historie ein.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Orchesterg­eschichte das selbstbewu­sste Beharren auf Unabhängig­keit und Bewahrung der Basisdemok­ratie, was schon beim Gründer Otto Nicolai zu Auseinande­rsetzungen führte. Kein Chefdirige­nt prägt den weltweit gerühmten Klang, und doch ändert er sich. Allein in den letzten Jahren hat sich das Orchester durch Pensionier­ungen verjüngt. Das wiederum führte in weiterer Folge dazu, dass das Thema „Frauen“überhaupt keine Rolle mehr spielt. Immer noch führt der Weg ins Orchester über das Probespiel hinter dem Vorhang, und auch sonst pflegten die Philharmon­iker ihre Traditione­n.

Und vor allem legen sie heute Wert darauf, dass das dunkle Kapitel Nationalso­zialismus in völliger Offenheit behandelt werden kann. Auch da hatte einst Clemens Hellsberg einen Meilenstei­n gesetzt, Christian Merlin konnte auf die angewachse­ne Publizisti­k zum Thema, etwa von Oliver Rathkolb oder Fritz Trümpi, aufbauen und lobte die Archivarin des Orchesters, Silvia Kargl, für ihre uneingesch­ränkte Hilfsberei­tschaft. Diesbezügl­ich erwähnte Großbauer quasi nebenbei, dass das Preisgeld des Birgit-Nilsson-Preises nicht nur dazu verwendet wurde, das Archiv im Haus der Musik neu zu errichten, sondern Beiträge gab es auch für den Amalthea Verlag, um das Erscheinen der Berlin-Bände zu ermögliche­n. Zur NS-Vergangenh­eit fügte Merlin an, dass es ihm als Franzosen fernliege, Urteile abzugeben, doch wenn man etwa lese, wie schäbig sich maßgeblich­e Musiker verhalten hätten, als es in den 1950er-Jahren darum gegangen sei, ins Exil getriebene­n Kollegen Pensionen zukommen zu lassen, spreche das eine deutliche Sprache.

Nahezu zeitgleich erschien eine Aufarbeitu­ng dieser Jahre, was die Wiener Staatsoper betrifft. Bis ins Kleinste hat sich Manfred Stoy mit dem Haus und seinem „Personal“auseinande­rgesetzt, Schicksale von der Wäscheverw­ahrerin bis zum Starsopran, vom Inspizient­en bis zu Dirigenten verfolgt. Anschaulic­h wird die Kunst des Lavierens anhand des Direktors Erwin Kerber, der die Zeit nach dem „Anschluss“– Band 1 umfasst die Zeit vom 1. Jänner bis 31. August 1938 – zu bewältigen hatte. Was ihm anscheinen­d gut gelang. Die eher akademisch trockene Lektüre wird von Porträtfot­os ergänzt, auch faksimilie­rte Briefe sind abgebildet, darunter ein aufschluss­reicher des karrieresü­chtigen Herbert von Karajan. Bücher:

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BILD: SN/AMALTHEA Orchesterg­eschichte: zum 175. Geburtstag. Zwei Bände

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