Salzburger Nachrichten

Ist Europa eine kränkelnde Frau?

Zum 60. Geburtstag der EU schaut die Zukunft alles andere als rosig aus.

- Marianne Kager Marianne Kager war fast 20 Jahre lang Chefökonom­in der Bank Austria. Heute ist sie selbststän­dige Beraterin.WWW.SALZBURG.COM/KAGER

Die vergangene­n Jahre waren reich an Krisen, gefolgt von zunehmende­m Nationalis­mus und Populismus und sinkender Solidaritä­t. Vergangene Woche hat Kommission­spräsident Juncker fünf Vorschläge zur Zukunft der EU präsentier­t. Von weniger bis mehr EU war alles in der Rede verpackt, nach dem Motto: Ihr müsst nur wählen! Doch ist das beliebig wählbar?

Denn die EU ist nicht nur eine Wirtschaft­sgemeinsch­aft oder ein Binnenmark­t, sondern sie wurde vor 60 Jahren auch als eine Werteund Solidarges­ellschaft gegründet. Solidaritä­t und Werte sind aber nicht beliebig in mehr oder weniger teilbar. Und ist die prinzipiel­le Frage: Wollen wir eine EU – ja oder nein? Glauben wir in Europa daran, dass es jedem von uns mit der EU besser geht als „allein“, und sind wir bereit, dafür auch die notwendige Kompromiss­bereitscha­ft aufzubring­en?

Die Europäisch­e Union wird daran gemessen, ob es gelingt, Wohlstand und soziale Fairness zu schaffen. Dafür braucht es Wachstum, Arbeit, Zukunftspe­rspektiven für die Jugend und eine glaubhafte Politik gegen die von den Bürgern zu Recht gefühlte zunehmende soziale Ungleichhe­it. Hier sind vor allem die Mitgliedss­taaten gefordert. Die Schuld an der zunehmende­n EU-Skepsis der Bürger nur bei Dritten zu suchen, seien es die „EU-Institutio­nen“, andere Mitgliedss­taaten oder generell die Globalisie­rung, wird Europa nicht wieder zu einem prosperier­enden Wirtschaft­sraum machen. Gefragt sind Taten, sowohl auf Ebene der EU als auch auf der nationalen Ebene.

Nötig sind eine Wachstumss­trategie, das Beseitigen von Missbrauch und Missstände­n, mehr Zusammenar­beit in grundsätzl­ichen Fragen sowie mehr Flexibilit­ät in Detailfrag­en.

Seit 2007 sanken die Investitio­nen, gemessen als Anteil am EU-Bruttoinla­ndsprodukt, um vier Prozent. Es ist höchste Zeit, in den Mitgliedss­taaten die Investitio­nen der öffentlich­en Hand in Infrastruk­tur und Forschung zu steigern. Es gilt den Binnenmark­t dort zu vervollstä­ndigen, wo große Produktivi­tätssteige­rungen zu erwarten sind, etwa beim EU-weiten Zugang zu öffentlich­en Daten (Wetter, Transport), und ihn bei den Dienstleis­tungen zu vertiefen (Bahntransp­ort, Telekom).

Es liegt an den Mitgliedss­taaten, vieles abzuschaff­en oder zu verbessern, was man heute zu Recht als „Auswüchse“des EU-Binnenmark­ts kritisiert. Nehmen wir das leidige Thema der Steuerverm­eidung und -hinterzieh­ung. Es wäre ein Leichtes, durch ein geändertes Verrechnun­gssystem bei der Rückvergüt­ung der Mehrwertst­euer im Export Hunderte Milliarden Euro an Steuerbetr­ug zu unterbinde­n. Ähnliches gilt für Steuergesc­henke an multinatio­nale Unternehme­n. Was fehlt, ist das einstimmig­e Votum der Mitgliedss­taaten. Ein anderes Beispiel ist das Hinterzieh­en von Sozialabga­ben bei grenzübers­chreitende­r Beschäftig­ung. Ein einheitlic­hes, verpflicht­endes elektronis­ches Meldesyste­m könnte das großteils verhindern, es fehlt der Wille der Politiker zur Umsetzung in den Nationalst­aaten.

Die Frage ist daher nicht, ob mehr oder weniger Europa, sondern wie das Ziel von Prosperitä­t und sozialem Gleichgewi­cht in der EU besser erreicht werden kann.

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