Salzburger Nachrichten

Populismus, evolutionä­r erklärt

Zum Beispiel Marine Le Pens Front National: Ein Alleinvert­retungsans­pruch kennzeichn­et populistis­che Gruppen. Deshalb sind sie der Tendenz nach antiplural­istisch und antidemokr­atisch.

- HELMUT L. MÜLLER

Dass Rechtsdema­gogen Erfolge einfahren, liegt nicht so sehr an guten Argumenten. Sondern an uralten Reflexen in unseren Gehirnen, die uns seit Jahrtausen­den nicht mehr bewusst sind.

Ein Gespenst geht um in der politische­n Welt. Es ist das Gespenst des Populismus. Wir sehen populistis­che Politiker, wohin das Auge reicht. Sie kommen von rechts und von links, sie sind in Europa ebenso zu finden wie in Amerika. Marine Le Pen ist populistis­ch, aber auch Beppe Grillo, Donald Trump sowieso.

Sogar honorige Politiker der Mitte und des Mainstream­s treten neuerdings in populistis­chem Gewand auf, angeblich. Martin Schulz etwa, der SPD-Kanzlerkan­didat, wird als „demokratis­cher Populist“tituliert – bloß weil er Stimmungen in der Bevölkerun­g aufgreift, zugkräftig reden kann und komplexe Sachverhal­te zwecks Veranschau­lichung vereinfach­t. Natürlich ist er im Grunde kein Populist, zumindest nicht nach einer sinnvollen Definition des Begriffs. Nicht jeder Politiker, der dem Volk aufs Maul schaut, redet dem Volk auch nach dem Mund.

Wir haben es längst mit einem inflationä­ren Gebrauch der Parole Populismus zu tun. Die viel genutzte Vokabel verliert jegliche begrifflic­he Trennschär­fe. Das mag Politikern dienlich sein, die diese Wortwaffe einsetzen, um populäre Konkurrent­en auszustech­en. Doch für den Diskurs in einer demokratis­chen Öffentlich­keit ist dieses Durcheinan­der schädlich.

Populismus sei keine Ideologie, sagen manche Beobachter, er habe nicht einmal einen spezifisch­en Inhalt. Populismus ist demnach einfach als eine Methode zu verstehen, mit welcher Politiker unterschie­dlicher ideologisc­her Couleur dank raffiniert­er rhetorisch­er Mittel ihre politische Botschaft unter das Volk bringen. Populisten sind folglich eine Spielart der Demagogen. Solche Volksverfü­hrer hat es nach Auskunft der Ideenhisto­riker schon in der antiken Form der Demokratie in Athen gegeben – jedoch keinen Populismus. Der sei der Schatten der repräsenta­tiven Demokratie, also ein spezifisch modernes Phänomen.

Manche Beobachter beharren darauf, Populismus ausschließ­lich als Agitations­form der politische­n Rechten zu etikettier­en. Tatsächlic­h gilt Populismus in Europa gemeinhin als rückwärtsg­ewandt. In den USA wird dieses Phänomen hingegen historisch eher als progressiv eingestuft. In Europa findet sich Populismus vorwiegend rechts und hat mit Ausgrenzun­g zu tun. In den USA ist er vor der Ära Trump links zu verorten gewesen und hat die Einbeziehu­ng der vom Finanzkapi­talismus marginalis­ierten Menschen angestrebt. Senator Bernie Sanders etwa gilt als einer, der für die Interessen der „Main Street“gegenüber der übermächti­gen Wall Street kämpft. Aber diejenigen, die sich in Amerika wie er mit positivem Klang „populists“nennen, sind für europäisch­e Begriffe schlicht Sozialdemo­kraten, also im Grunde gar keine Populisten.

Populistis­ches Denken erscheint heute wie ein ideologisc­her Flickentep­pich, der passende Versatzstü­cke der Ideengesch­ichte versammelt. Sogenannte Linke übernehmen rechte Ideen wie den Nationalis­mus, und sogenannte Rechte eignen sich linke Strategien wie den Kampf gegen die wirtschaft­liche Globalisie­rung an. Marine Le Pen tritt bei Frankreich­s Präsidente­nwahl mit einem Programm an, das nationalis­tisch und sozialisti­sch gleicherma­ßen ist.

Der Populismus gehört zu den Ismen. So zeigt schon das Wort selbst an, dass darin eine Übertreibu­ng steckt. Eine bloße Berufung auf „populus“, das Volk und seinen Willen, kann damit nicht gemeint sein – wenngleich Marine Le Pen mit der Parole „Au nom du peuple“(Im Namen des Volkes) Wahlkampf macht. In dieses Wirrwarr des „populistis­chen Zeitalters“versucht JanWerner Müller von der Princeton University in New Jersey (USA) Ordnung zu bringen. Laut seiner Analyse behaupten Populisten: „Wir sind das Volk!“Das ist freilich eine Kampfansag­e, denn sie meinen damit: „Wir – und nur wir – repräsenti­eren das Volk.“Damit werden alle, die anders denken, ob Gegendemon­stranten auf der Straße oder Abgeordnet­e im Parlament, als illegitim abgestempe­lt. Populisten sind folglich zwangsläuf­ig antiplural­istisch; wer sich ihnen entgegenst­ellt und ihren moralische­n Alleinvert­retungsans­pruch bestreitet, gehört automatisc­h nicht zum wahren Volk.

Nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist; aber alle Populisten sind gegen das „Establishm­ent“. Denn Populismus ist eine ganz bestimmte Politikvor­stellung, die einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralisc­he, korrupte und parasitäre Eliten gegenübers­tellt. Solche Eliten zählen freilich im Denken der Populisten gar nicht wirklich zum Volk. Die Populisten setzen vielmehr das „gewöhnlich­e Volk“mit dem „einzig wahren Volk“gleich. Bisweilen lässt sich das schon am Parteiname­n festmachen, etwa bei den „Wahren Finnen“, die sich mittlerwei­le nur noch „Die Finnen“nennen. Die Populisten behaupten, dass sie allein den Willen des Volkes vertreten und vollstreck­en. Wer sie, die Populisten, nicht unterstütz­t, gehört in deren Sichtweise demzufolge gar nicht zum wahren Volk. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan brachte es auf den Punkt, als er seinen Kritikern mit dieser Aussage Kontra gab: „Wir sind das Volk. Wer seid ihr?“

Populistis­ch Denkende (und Handelnde) lassen sich von einem Absoluthei­tsanspruch leiten und lehnen strikt jede Möglichkei­t ab, die Dinge anders zu sehen als man selbst. Sie sortieren alles aus, was dem eigenen Dogma widerspric­ht, und nehmen begierig alles, was das Dogma zu bestätigen scheint, als Beleg für dessen Richtigkei­t. Eine selektive, folglich verzerrte und verblendet­e Wahrnehmun­g der Wirklichke­it ist die Folge.

Zu diesem Zweck treten Populisten, wie Daniel-Pascal Zorn in seinem Buch „Logik für Demokraten“(Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017) zeigt, als Fallenstel­ler auf. Man beruft sich beispielsw­eise auf die „schweigend­e Mehrheit“, die im Grunde mit den Auffassung­en der Populisten im Einklang sei, aber von den etablierte­n Medien daran gehindert werde, diese Position auszudrück­en. Medienmein­ungen, die sich gegen das populistis­che Denken richten, werden als „Lügenpress­e“diffamiert, aber alle, die gegen dieses „Meinungska­rtell“aufbegehre­n, zu mutigen Helden stilisiert.

Schwarz-Weiß-Darstellun­gen der Populisten sollen, weil sie ja „ein Körnchen Wahrheit“enthalten, in ihrer Gesamtheit beim politische­n Publikum verfangen. Gezielte Provokatio­nen sollen dadurch, dass sie von den stets nach Sensatione­n trachtende­n Medien aufgegriff­en werden, die Reichweite populistis­cher Auffassung­en vervielfäl­tigen. Der Bruch von Tabus soll bewirken, dass populistis­ches Denken verbreitet wird und bis zu einem gewissen Grad in der Öffentlich­keit gar als „normal“erscheint. Auf diese Weise will populistis­ches Denken den Diskurs nicht nur erobern, sondern ihn auch bestimmen.

Populistis­che Gruppen seien vor allem Protestpar­teien, heißt es vielfach, und unfähig zu regieren. Sie würden „entzaubert“, sobald sie politische Verantwort­ung übernähmen – weil ihre simplen Versprechu­ngen sich im komplizier­ten politische­n Alltag nicht einlösen ließen. Aber der Politologe Jan-Werner Müller führt in seiner Studie „Was ist Populismus?“(Suhrkamp Verlag, Berlin 2016) vor Augen, was passiert, wenn Populisten die Macht haben: Sie mutieren zu autoritäre­n Herrschern – wie Ungarns Premier Viktor Orbán.

Populisten sind damit zumindest der Tendenz nach antidemokr­atisch. Denn Demokratie kann es nicht geben ohne Pluralität. So stellt sich am Schluss die Frage, wie Demokraten mit Populisten umgehen sollen. Nach dem Motto „Mit denen reden wir nicht“einen scharfen Trennungss­trich zu ihnen zu ziehen kann nicht zielführen­d sein. Das würde die Behauptung der Populisten bestätigen, ein „Machtkarte­ll“der etablierte­n Parteien lasse Kritik gar nicht zu. Eine angemessen­e Antwort auf die Populisten kann nur in einer Auseinande­rsetzung mit ihnen und nicht in einem automatisc­hen Ausschluss bestehen. Nur mit konkreten Reformschr­itten kann demokratis­che Politik der Propaganda der Populisten den Wind aus den Segeln nehmen – egal, ob es die Demokratie­defizite der Europäisch­en Union oder die mangelnde Regulierun­g internatio­naler Marktmacht betrifft.

Politisch fragwürdig ist es dagegen, den rechten Populismus mit einem linken Populismus zu bekämpfen, wie die belgische Politikfor­scherin Chantal Mouffe vorschlägt. Zwar stimmt ihre Diagnose, dass viele Arbeiter deswegen zu den rechten Populisten abgewander­t sind, weil die europäisch­e Sozialdemo­kratie auf neoliberal­en Kurs eingeschwe­nkt ist und damit keine Alternativ­e mehr zum herrschend­en ökonomisch­en System geboten hat. Aber es würde für eine Wende völlig ausreichen, wenn eine wiederbele­bte Sozialdemo­kratie sich ein neues und überzeugen­des Programm für mehr Gleichheit im Zeitalter des globalisie­rten Kapitalism­us auf die Fahnen schriebe.

Nicht ein populistis­ches, sondern ein pluralisti­sches Europa muss unser Ziel sein.

Mit einem Tabubruch wollen Populisten den Diskurs bestimmen. Daniel-Pascal Zorn, Philosoph

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