Populismus, evolutionär erklärt
Zum Beispiel Marine Le Pens Front National: Ein Alleinvertretungsanspruch kennzeichnet populistische Gruppen. Deshalb sind sie der Tendenz nach antipluralistisch und antidemokratisch.
Dass Rechtsdemagogen Erfolge einfahren, liegt nicht so sehr an guten Argumenten. Sondern an uralten Reflexen in unseren Gehirnen, die uns seit Jahrtausenden nicht mehr bewusst sind.
Ein Gespenst geht um in der politischen Welt. Es ist das Gespenst des Populismus. Wir sehen populistische Politiker, wohin das Auge reicht. Sie kommen von rechts und von links, sie sind in Europa ebenso zu finden wie in Amerika. Marine Le Pen ist populistisch, aber auch Beppe Grillo, Donald Trump sowieso.
Sogar honorige Politiker der Mitte und des Mainstreams treten neuerdings in populistischem Gewand auf, angeblich. Martin Schulz etwa, der SPD-Kanzlerkandidat, wird als „demokratischer Populist“tituliert – bloß weil er Stimmungen in der Bevölkerung aufgreift, zugkräftig reden kann und komplexe Sachverhalte zwecks Veranschaulichung vereinfacht. Natürlich ist er im Grunde kein Populist, zumindest nicht nach einer sinnvollen Definition des Begriffs. Nicht jeder Politiker, der dem Volk aufs Maul schaut, redet dem Volk auch nach dem Mund.
Wir haben es längst mit einem inflationären Gebrauch der Parole Populismus zu tun. Die viel genutzte Vokabel verliert jegliche begriffliche Trennschärfe. Das mag Politikern dienlich sein, die diese Wortwaffe einsetzen, um populäre Konkurrenten auszustechen. Doch für den Diskurs in einer demokratischen Öffentlichkeit ist dieses Durcheinander schädlich.
Populismus sei keine Ideologie, sagen manche Beobachter, er habe nicht einmal einen spezifischen Inhalt. Populismus ist demnach einfach als eine Methode zu verstehen, mit welcher Politiker unterschiedlicher ideologischer Couleur dank raffinierter rhetorischer Mittel ihre politische Botschaft unter das Volk bringen. Populisten sind folglich eine Spielart der Demagogen. Solche Volksverführer hat es nach Auskunft der Ideenhistoriker schon in der antiken Form der Demokratie in Athen gegeben – jedoch keinen Populismus. Der sei der Schatten der repräsentativen Demokratie, also ein spezifisch modernes Phänomen.
Manche Beobachter beharren darauf, Populismus ausschließlich als Agitationsform der politischen Rechten zu etikettieren. Tatsächlich gilt Populismus in Europa gemeinhin als rückwärtsgewandt. In den USA wird dieses Phänomen hingegen historisch eher als progressiv eingestuft. In Europa findet sich Populismus vorwiegend rechts und hat mit Ausgrenzung zu tun. In den USA ist er vor der Ära Trump links zu verorten gewesen und hat die Einbeziehung der vom Finanzkapitalismus marginalisierten Menschen angestrebt. Senator Bernie Sanders etwa gilt als einer, der für die Interessen der „Main Street“gegenüber der übermächtigen Wall Street kämpft. Aber diejenigen, die sich in Amerika wie er mit positivem Klang „populists“nennen, sind für europäische Begriffe schlicht Sozialdemokraten, also im Grunde gar keine Populisten.
Populistisches Denken erscheint heute wie ein ideologischer Flickenteppich, der passende Versatzstücke der Ideengeschichte versammelt. Sogenannte Linke übernehmen rechte Ideen wie den Nationalismus, und sogenannte Rechte eignen sich linke Strategien wie den Kampf gegen die wirtschaftliche Globalisierung an. Marine Le Pen tritt bei Frankreichs Präsidentenwahl mit einem Programm an, das nationalistisch und sozialistisch gleichermaßen ist.
Der Populismus gehört zu den Ismen. So zeigt schon das Wort selbst an, dass darin eine Übertreibung steckt. Eine bloße Berufung auf „populus“, das Volk und seinen Willen, kann damit nicht gemeint sein – wenngleich Marine Le Pen mit der Parole „Au nom du peuple“(Im Namen des Volkes) Wahlkampf macht. In dieses Wirrwarr des „populistischen Zeitalters“versucht JanWerner Müller von der Princeton University in New Jersey (USA) Ordnung zu bringen. Laut seiner Analyse behaupten Populisten: „Wir sind das Volk!“Das ist freilich eine Kampfansage, denn sie meinen damit: „Wir – und nur wir – repräsentieren das Volk.“Damit werden alle, die anders denken, ob Gegendemonstranten auf der Straße oder Abgeordnete im Parlament, als illegitim abgestempelt. Populisten sind folglich zwangsläufig antipluralistisch; wer sich ihnen entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zum wahren Volk.
Nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist; aber alle Populisten sind gegen das „Establishment“. Denn Populismus ist eine ganz bestimmte Politikvorstellung, die einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstellt. Solche Eliten zählen freilich im Denken der Populisten gar nicht wirklich zum Volk. Die Populisten setzen vielmehr das „gewöhnliche Volk“mit dem „einzig wahren Volk“gleich. Bisweilen lässt sich das schon am Parteinamen festmachen, etwa bei den „Wahren Finnen“, die sich mittlerweile nur noch „Die Finnen“nennen. Die Populisten behaupten, dass sie allein den Willen des Volkes vertreten und vollstrecken. Wer sie, die Populisten, nicht unterstützt, gehört in deren Sichtweise demzufolge gar nicht zum wahren Volk. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan brachte es auf den Punkt, als er seinen Kritikern mit dieser Aussage Kontra gab: „Wir sind das Volk. Wer seid ihr?“
Populistisch Denkende (und Handelnde) lassen sich von einem Absolutheitsanspruch leiten und lehnen strikt jede Möglichkeit ab, die Dinge anders zu sehen als man selbst. Sie sortieren alles aus, was dem eigenen Dogma widerspricht, und nehmen begierig alles, was das Dogma zu bestätigen scheint, als Beleg für dessen Richtigkeit. Eine selektive, folglich verzerrte und verblendete Wahrnehmung der Wirklichkeit ist die Folge.
Zu diesem Zweck treten Populisten, wie Daniel-Pascal Zorn in seinem Buch „Logik für Demokraten“(Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017) zeigt, als Fallensteller auf. Man beruft sich beispielsweise auf die „schweigende Mehrheit“, die im Grunde mit den Auffassungen der Populisten im Einklang sei, aber von den etablierten Medien daran gehindert werde, diese Position auszudrücken. Medienmeinungen, die sich gegen das populistische Denken richten, werden als „Lügenpresse“diffamiert, aber alle, die gegen dieses „Meinungskartell“aufbegehren, zu mutigen Helden stilisiert.
Schwarz-Weiß-Darstellungen der Populisten sollen, weil sie ja „ein Körnchen Wahrheit“enthalten, in ihrer Gesamtheit beim politischen Publikum verfangen. Gezielte Provokationen sollen dadurch, dass sie von den stets nach Sensationen trachtenden Medien aufgegriffen werden, die Reichweite populistischer Auffassungen vervielfältigen. Der Bruch von Tabus soll bewirken, dass populistisches Denken verbreitet wird und bis zu einem gewissen Grad in der Öffentlichkeit gar als „normal“erscheint. Auf diese Weise will populistisches Denken den Diskurs nicht nur erobern, sondern ihn auch bestimmen.
Populistische Gruppen seien vor allem Protestparteien, heißt es vielfach, und unfähig zu regieren. Sie würden „entzaubert“, sobald sie politische Verantwortung übernähmen – weil ihre simplen Versprechungen sich im komplizierten politischen Alltag nicht einlösen ließen. Aber der Politologe Jan-Werner Müller führt in seiner Studie „Was ist Populismus?“(Suhrkamp Verlag, Berlin 2016) vor Augen, was passiert, wenn Populisten die Macht haben: Sie mutieren zu autoritären Herrschern – wie Ungarns Premier Viktor Orbán.
Populisten sind damit zumindest der Tendenz nach antidemokratisch. Denn Demokratie kann es nicht geben ohne Pluralität. So stellt sich am Schluss die Frage, wie Demokraten mit Populisten umgehen sollen. Nach dem Motto „Mit denen reden wir nicht“einen scharfen Trennungsstrich zu ihnen zu ziehen kann nicht zielführend sein. Das würde die Behauptung der Populisten bestätigen, ein „Machtkartell“der etablierten Parteien lasse Kritik gar nicht zu. Eine angemessene Antwort auf die Populisten kann nur in einer Auseinandersetzung mit ihnen und nicht in einem automatischen Ausschluss bestehen. Nur mit konkreten Reformschritten kann demokratische Politik der Propaganda der Populisten den Wind aus den Segeln nehmen – egal, ob es die Demokratiedefizite der Europäischen Union oder die mangelnde Regulierung internationaler Marktmacht betrifft.
Politisch fragwürdig ist es dagegen, den rechten Populismus mit einem linken Populismus zu bekämpfen, wie die belgische Politikforscherin Chantal Mouffe vorschlägt. Zwar stimmt ihre Diagnose, dass viele Arbeiter deswegen zu den rechten Populisten abgewandert sind, weil die europäische Sozialdemokratie auf neoliberalen Kurs eingeschwenkt ist und damit keine Alternative mehr zum herrschenden ökonomischen System geboten hat. Aber es würde für eine Wende völlig ausreichen, wenn eine wiederbelebte Sozialdemokratie sich ein neues und überzeugendes Programm für mehr Gleichheit im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus auf die Fahnen schriebe.
Nicht ein populistisches, sondern ein pluralistisches Europa muss unser Ziel sein.
Mit einem Tabubruch wollen Populisten den Diskurs bestimmen. Daniel-Pascal Zorn, Philosoph