Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Zwischen Dauerarbeit und Erlebnishetze entdeckt eine Ausstellung den „Munchhausen-Effect“.
Welches Bild von unserer Zeit werden sich Chronisten in 100 Jahren machen? Vielleicht werden sie amüsiert erzählen, wie eine ganze Gesellschaft aus Angst, etwas versäumen zu können, stets das Smartphone griffbereit hatte. „Es war eine Zeit des Schauens, ohne zu sehen“, kommentiert die Stimme aus dem Off. Auf dem dazugehörigen Video ist ein Mann zu sehen, der vergisst, den Ausblick auf dem Mozartplatz zu genießen, weil er damit beschäftigt ist, ihn zu fotografieren. Seiner Videoarbeit, die in der Galerie Fünfzigzwanzig ausgestellt ist, hat Sam Bunn ein Gedankenspiel vorangestellt: Als Zeitreisender schaut er aus der Distanz des 22. Jahrhunderts auf die Jetztzeit. Seine „Zeitmaschine“im Kühlschrankformat verweist mitten im großen Galerieraum auf das Thema der Ausstellung: 14 Arbeiten erzählen „Von der Zeit in einer Zeit, wo keiner mehr Zeit hat“. So lautet der Untertitel der Schau.
Nicht nur in der Arbeitswelt sei der Druck zu Hause, sagen die Kuratorinnen Anamarija Batista und Ksenija Orelj. „Auch im Privaten rennen wir ständig der Zeit hinterher.“Kann man Zeitmangel durch Zeitstress kompensieren? Das Phänomen erinnere an die Erzählung vom Baron Münchhausen, der behauptete, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen zu haben. „The Munchhausen-Effect“haben Batista und Orelj die Ausstellung deshalb genannt. Auch ein Biennale-Teilnehmer ist darin vertreten: Marko Tadić wird heuer den kroatischen Pavillon in Venedig (mit)gestalten. Er zeigt in seiner Filminstallation ein mumienartiges Männchen, das als Zeitreisender durch historische Postkarten spaziert.
Wie viel Abstand braucht der Mensch? In Fotografien von Anna Hofbauer wird die Suche nach der richtigen Distanz sichtbar. In ihrer Schwarz-Weiß-Serie ist die Künstlerin zugleich die Protagonistin.
Mit pointiertem Witz zeichnet Jakub Vrba den Zeitgeist in einer Ära der Ich-AGs: „Wir haben die Grippe!“, rufen drei Männchen im Büro fast triumphierend leidensfähig. Selbst in der Hängematte von Luiza Margan wirkt das Recht auf Erholung fadenscheinig: Aus Resten aufgeklaubter Nylonschnüre knüpfte sie ihre Arbeit namens „Siesta“.
Ein Moment des „unvollendeten Widerstands“verbinde viele derArbeiten, sagt Karolina Radenkovic, Leiterin der Galerie Fünfzigzwanzig. Die Frage, welche Rolle Kunst in einer Zeit des Wandels spielen könnte, hat sie zum Motto ihres ersten Jahresprogramms gemacht: Es heißt „Micro-(U)topias“. Ausstellung: