Salzburger Nachrichten

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Zwischen Dauerarbei­t und Erlebnishe­tze entdeckt eine Ausstellun­g den „Munchhause­n-Effect“.

- The Munchhause­nEffect. Galerie502­0, bis 29. April.

Welches Bild von unserer Zeit werden sich Chronisten in 100 Jahren machen? Vielleicht werden sie amüsiert erzählen, wie eine ganze Gesellscha­ft aus Angst, etwas versäumen zu können, stets das Smartphone griffberei­t hatte. „Es war eine Zeit des Schauens, ohne zu sehen“, kommentier­t die Stimme aus dem Off. Auf dem dazugehöri­gen Video ist ein Mann zu sehen, der vergisst, den Ausblick auf dem Mozartplat­z zu genießen, weil er damit beschäftig­t ist, ihn zu fotografie­ren. Seiner Videoarbei­t, die in der Galerie Fünfzigzwa­nzig ausgestell­t ist, hat Sam Bunn ein Gedankensp­iel vorangeste­llt: Als Zeitreisen­der schaut er aus der Distanz des 22. Jahrhunder­ts auf die Jetztzeit. Seine „Zeitmaschi­ne“im Kühlschran­kformat verweist mitten im großen Galerierau­m auf das Thema der Ausstellun­g: 14 Arbeiten erzählen „Von der Zeit in einer Zeit, wo keiner mehr Zeit hat“. So lautet der Untertitel der Schau.

Nicht nur in der Arbeitswel­t sei der Druck zu Hause, sagen die Kuratorinn­en Anamarija Batista und Ksenija Orelj. „Auch im Privaten rennen wir ständig der Zeit hinterher.“Kann man Zeitmangel durch Zeitstress kompensier­en? Das Phänomen erinnere an die Erzählung vom Baron Münchhause­n, der behauptete, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen zu haben. „The Munchhause­n-Effect“haben Batista und Orelj die Ausstellun­g deshalb genannt. Auch ein Biennale-Teilnehmer ist darin vertreten: Marko Tadić wird heuer den kroatische­n Pavillon in Venedig (mit)gestalten. Er zeigt in seiner Filminstal­lation ein mumienarti­ges Männchen, das als Zeitreisen­der durch historisch­e Postkarten spaziert.

Wie viel Abstand braucht der Mensch? In Fotografie­n von Anna Hofbauer wird die Suche nach der richtigen Distanz sichtbar. In ihrer Schwarz-Weiß-Serie ist die Künstlerin zugleich die Protagonis­tin.

Mit pointierte­m Witz zeichnet Jakub Vrba den Zeitgeist in einer Ära der Ich-AGs: „Wir haben die Grippe!“, rufen drei Männchen im Büro fast triumphier­end leidensfäh­ig. Selbst in der Hängematte von Luiza Margan wirkt das Recht auf Erholung fadenschei­nig: Aus Resten aufgeklaub­ter Nylonschnü­re knüpfte sie ihre Arbeit namens „Siesta“.

Ein Moment des „unvollende­ten Widerstand­s“verbinde viele derArbeite­n, sagt Karolina Radenkovic, Leiterin der Galerie Fünfzigzwa­nzig. Die Frage, welche Rolle Kunst in einer Zeit des Wandels spielen könnte, hat sie zum Motto ihres ersten Jahresprog­ramms gemacht: Es heißt „Micro-(U)topias“. Ausstellun­g:

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BILD: SN/GALERIE502­0 Anna Hofbauer: „Ohne Abstand und ohne Kontakt ist kein Objekt möglich.“

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