„Euer dreckiger Dialekt“
Dem Untergang geweiht? Kaum jemand weiß noch, dass im französischen Elsass ein deutscher Dialekt gesprochen wird. Als Sprache der deutschen Besatzer stigmatisiert, wird sich in dieser Generation entscheiden, ob das Elsässische verschwindet.
Vaflixt nuchamul!“, entfährt es der Dame hinter dem Fahrkartenschalter am Straßburger Bahnhof. Nanu? Eben noch schien sie nur Französisch zu verstehen. Auf Nachfrage stellt sich heraus: Sie spricht Elsässisch – einen deutschen Dialekt, den um 1900 noch 95 Prozent der Menschen in der Region beherrschten. Geografisch gesehen kein Wunder: Das Elsass befindet sich im Nordosten Frankreichs und ist nur durch den Rhein von Deutschland getrennt.
Seit dem 5. Jahrhundert wechselte das Elsass fünf Mal zwischen deutscher und französischer Herrschaft. Die jeweils andere Sprache war verpönt. Im Zweiten Weltkrieg spitzte sich die Situation zu: Die Wehrmacht besetzte Frankreich, die verhassten Nazis wurden als „Sales boches“, als „dreckige Deutsche“beschimpft. Nach 1945 war es nicht besser: Wer die Sprache der Besatzer sprach, erntete Verachtung. Hochdeutsch war als Unterrichtsfach verboten, Kinder wurden bestraft, wenn sie in der Schule elsässisch sprachen, die Französischsprechenden beschimpften die Elsässer: „Votre sale dialecte“– „euer dreckiger Dialekt“.
Ein Stigma, das bis heute nachwirke, sagt Pierre Klein. Er ist 71 Jahre alt, pensionierter Lehrer und Autor mehrerer Bücher. Vor allem aber ist er ein unermüdlicher Kämpfer für die Dreisprachigkeit: Französisch, Deutsch und Elsässisch. Denn nur mit dem Hochdeutschen als Referenzsprache könne der Dialekt lebendig bleiben. „Elsässisch sein ist eine Synthese aus französischer und deutscher Kultur“, betont er. Das sei auch der Grund, warum pro Jahr elf Millionen Touristen ins Elsass kämen. Die Mischung ist tatsächlich bestechend: Fachwerkhäuser mit Geranien, sanfte Weinberge und gotische Kirchen, Flammkuchen und Baguette, Sauerkraut, Riesling und Bier.
Linguistisch betrachtet haben die Elsässer ihren Dialekt zu einer eigenen Schriftsprache aufgewertet und damit von der deutschen Standardsprache abgetrennt.
Dennoch geht der Dialekt von Generation zu Generation zurück. 2012 gaben nur mehr 43 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner an, gut Elsässisch zu sprechen. Drei Viertel davon waren über 60 Jahre alt. Bei den Dreibis 17-Jährigen waren es nur drei Prozent.
Der Linguist Frank Seifart von der Gesellschaft für bedrohte Sprachen sagt: „Das ist ein deutliches Symptom. Eine Sprache verschwindet, wenn sie nicht mehr von Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird.“Dabei sei es egal, ob es nur mehr 200 Sprecher gebe oder gut 800.000, wie im Elsass.
Bei den Eltern setzt auch OLCA (L’Office pour la Langue et la Culture d’Alsace – das Elsassische Sprochàmt) an. Sein Budget von 800.000 Euro pro Jahr stammt von der Regionalverwaltung. Wer im Elsass ein Kind zur Welt bringt, erhält von OLCA ein Paket. Darin befinden sich zweisprachige Aufkleber für das Auto oder ein Heftchen mit Reimen, Finger- und Kinderspielen auf Elsässisch. Das Motto von OLCA lautet: „Elsassisch ìsch bombisch“– was man mit „Elsässisch ist geil“übersetzen könnte, erklärt die stellvertretende OLCA-Leiterin Annette Striebig-Weissenburger. „,Bombisch‘ ist eine Wortkreation von uns. Wir wollen damit zeigen, dass die Sprache jung und anpassungsfähig ist.“Für Jugendliche hat OLCA eine App für das Handy konzipiert: Vier verschiedene Münder geben auf Befehl flotte Sprüche auf Elsässisch von sich. Sie wurde 30.000 Mal downgeloadet. Die Bürgermeister der 900 Gemeinden im Elsass wurden angeschrieben, ob sie unterhalb der Ortstafel ein Zusatzschild anbringen wollen: „Mir rede au Elsassisch“– „Wir sprechen auch Elsässisch“. Dazu kommen Wettbewerbe und Veranstaltungen.
Diesen Bemühungen gegenüber steht die Sprachpolitik Frankreichs. Es akzeptiert als einziger EU-Staat keine Minderheitensprachen. Frankreich hat zwar 1992 die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarats in Straßburg unterzeichnet. Ratifiziert wurde sie aber bis heute nicht. Hintergrund: Sie würde der französischen Verfassung widersprechen. Dort heißt es in Artikel 2: „La langue de la République est le français“– die Sprache der Republik ist Französisch.
Was bedeutet das konkret? „Elsässisch ist zum Beispiel im Behördenverkehr nicht zugelassen“, sagt Andreas Kiefer, der Generalsekretär des Europarats. Zum 25-Jahr-Jubiläum der Sprachen-Charta werde es einen Bericht des Europarats geben. „Wir versuchen damit sanften Druck auszuüben.“
Ist Elsässisch also dem Untergang geweiht? „Ich befürchte das Schlimmste“, sagt der Journalist Jean-Christophe Meyer. Der 38-Jährige wuchs im Örtchen Blienschwiller an der Weinstraße auf. In der Schule wurde er bestraft, weil er Dialekt sprach. Heute fühlt er sich hin- und hergerissen. Er würde einerseits gern in seinem Heimatdorf leben und dort den Dialekt lebendig halten. Andererseits hat es ihn beruflich ins Dreiländereck nach Saint-Louis verschlagen, wo er für die frankophone Tageszeitung „L’Alsace“arbeitet. Er schreibt dort auf Französisch, doch ein Mal pro Woche veröffentlicht er eine Kolumne auf Elsässisch. Um seinen kleinen Sohn zweisprachig zu erziehen, ging er in Karenz. Außerdem ist er als Dialektdichter aktiv. Eines seiner Werke ziert seit September den Dreiland-Dichterweg am Ufer des Rheins, auf dem Autoren aus dem Elsass, der Schweiz und Deutschland verewigt sind.
Anders ist es beim 33-jährigen Benjamin Ludwig. Er weigerte sich als Kind, Dialekt zu sprechen: „Mein Bruder und ich fanden Deutsch und Dialekt nicht schön“, erzählt er. Geändert habe sich das erst mit dem Tod seines Vaters und seit er selbst Vater ist. Er fing wieder an, elsässisch zu sprechen und auch zu singen, in seiner Band Hopla Guys. Seither fliegen der Musikgruppe die Herzen zu – auch von Menschen, die kein Wort Dialekt sprechen. Beruflich begeistert er Grundschüler für das Elsässische, als Angestellter des Dreiländer-Gemeindeverbands (Communauté de Communes des Trois Frontières). „Wir machen Spiele und singen – alles auf Elsässisch. Kinder lernen ganz schnell.“Doch die öffentliche Hand könne nur begrenzt etwas verändern – der Dialekt müsse in den Familien weitergegeben werden. Ludwig: „Wenn die Leute den Dialekt nicht sprechen wollen, können wir ihnen nicht helfen.“
Das sieht auch die Linguistin Pascale Erhart so. Die 32-Jährige leitet das Institut für Dialektologie der Universität Straßburg. Elsässisch sei die „Sprache des Privaten und der Gefühle“, fürs Fluchen, für Liebesbezeugungen oder Kosenamen. „In der Familie spricht man elsässisch, aber außerhalb dominiert das Französische“, sagt Erhart. Ob das Elsässerdeutsch erhalten bleibe, hänge daher von den Menschen ab: „Wenn sie es weiter sprechen wollen, dann sprechen sie es. Ich sehe das nicht so pessimistisch.“