Die Renaissance der politischen Rede
Große Ansprachen sind wieder in Mode gekommen. Die Politik scheint damit einer geheimen Sehnsucht der Menschen Rechnung zu tragen.
Perikles, Cato, Demosthenes: Was hält ein Wissenschafter, der sich mit den größten Rednern der Geschichte befasst, von heutigen Politikerreden? Die SN sprachen mit dem Salzburger Rhetorik-Professor Thomas Schirren. SN: Was unterscheidet politische Reden in der Antike und heute?
Schirren: Die öffentliche Rede, also die politische und die Gerichtsrede, hatte in der Antike ein sehr hohes Niveau. Wer öffentlich auftrat, orientierte sich an den Regeln der klassischen Rhetorik. Das heißt, er konnte nicht sprechen wie der Mann auf der Straße, sondern hatte eine ganz bestimmte Technik anzuwenden. Und das Publikum war auf diesen speziellen Stil geeicht. SN: Woher wissen wir denn, wie damals geredet wurde? Viele klassische Reden wurden anschließend publiziert. Diese schriftlich ausgefeilten Reden sind Monumente sprachlicher Perfektion. Was wir nicht wissen, ist, wie das im mündlichen Vortrag gewirkt hat. Aber von Perikles hieß es, wenn er in der Volksversammlung sprach, habe es „geblitzt und gedonnert“. Er wurde in seiner Redegewalt also mit Zeus verglichen. Perikles verstand es, allein mit dem Wort den Staat Athen zu lenken. SN: Kann die Rede eines Politikers heute auch so viel verändern? Durch die Medien leben wir heute in einer Welt, die stark von Bildern geprägt ist. Und von den Emotionen, die durch diese Bilder geweckt werden. Diese Emotionen lenken wiederum die Politik. Denken Sie nur an die Flüchtlingspolitik. Hier ein Gleichgewicht zwischen Vernunft und Emotion herzustellen, schafft oft nur das gesprochene Wort. Das sollte ein verantwortlicher Politiker eigentlich leisten. SN: Und wer kann das heute? Ein wirklich guter Redner war und ist Barack Obama. Er hat bei seinem Amtsantritt die Hoffnung geweckt, dass es da einen gibt, der die Komplexität der Wirklichkeit erklärt, die unterschiedlichen Positionen gegeneinander abwägt und für praktikable Lösungen wirbt. SN: Er lockte mit seinen Reden Hunderttausende Zuhörer an. Auch österreichische Politiker setzen zunehmend auf Auftritte vor Publikum. Erleben wir eine Renaissance der Rede? Die Sehnsüchte nach einer überlegten, vernünftigen Haltung sind groß. Auf der einen Seite sehnt sich der Mensch nach dem, was in der Wirtschaft „Leadership“heißt. Auf der anderen wünscht er sich Autoritäten, von denen er glaubt, dass sie die Unzahl an Nachrichten und Bildern richtig einschätzen und ihm erklären können. SN: Wer könnten heute solche Autoritäten sein? Es gibt in Deutschland wie in Österreich das Amt des Bundespräsidenten, der eigentlich nur die Macht des Wortes hat. Genau darum geht es: Es gibt jemand, der soll nicht sagen, wo es langgeht, sondern der den Anstoß dafür liefert, worüber jeder Einzelne nachdenken sollte. Der also nicht sagt, was die Lösung, sondern was das Problem ist. Und der dadurch einen Diskurs auslöst. Das haben sowohl Joachim Gauck als auch Heinz Fischer sehr gut gemacht. SN: Aber wenn man sich die Wahlergebnisse ansieht, scheinen die Menschen weniger an Ausgleich als an kantiger Politik interessiert zu sein. Das Problem ist, dass solche Politiker dem Affen Zucker geben, also vorhandene Emotionen noch schüren, die sie dann selbst nicht mehr kontrollieren können. Es braucht Gelassenheit in der Rede. In der Geschichte der Rhetorik zeigt sich, dass „ratio“und „oratio“, also Vernunft und Rede, zusammenhängen. SN: Trotzdem sind Demagogen erfolgreich, gerade auch durch ihre Reden. Die Propaganda-Maschinerie totalitärer Regime operiert mit Gewalt, auch mit der Gewalt des Wortes. Mit überlegter, reflektierter Rede hat das nichts zu tun. Die Erfolge der totalitären Regime gehen nicht aufs Konto der Rhetorik. Joseph Goebbels hat mit seiner berüchtigten Sportpalastrede 1943, die als Inbegriff der Macht der Rhetorik gilt, genau niemand überzeugt oder begeistert. Das Publikum, das ihm zujubelte, bestand aus lauter verpflichteten Claqueuren.
SN: Aber heutige Demagogen reden nicht vor bezahltem Publikum. Woraus ziehen sie ihre Faszination? Der Redestil dieser Leute produziert unter den Zuhörern ein Wir-Gefühl. Das mag eine Antwort sein. Aber dieser Stil ist nicht werbend, sondern sich nur jener versichernd, die eh schon da sind. SN: Manche Politiker können überhaupt nicht reden. Wäre es in der Antike möglich gewesen, mit so schlechter Rhetorik Politiker zu werden? Ausgeschlossen! Ein Römer, der die Ämterlaufbahn durchlaufen wollte, musste perfekt reden können. Das setzte ein Höchstmaß an Kompetenzen voraus – stilistische, gedankliche, aber auch stimmliche, denn es gab ja damals keine Mikrofone und Verstärkeranlagen. Und es gab auch keine Redenschreiber und keine versteckten Bildschirme, von denen die Reden heute abgelesen werden. Selbst die längste Rede musste in der Antike auswendig gehalten werden, was hohe Anforderungen an die Mnemotechnik stellte. Auch später, etwa in den jesuitischen und benediktinischen Lehrplänen, war Rhetorik eine ganz entscheidende Fertigkeit. SN: Und warum hat sich das mittlerweile geändert? Heute ist das Problem, dass politische Entscheidungen in kleinen Zirkeln fallen, ohne dass öffentliche Reden gehalten werden. Das halte ich für eine bedenkliche Entwicklung. Der neue deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat bei seinem Abschied vom Bundestag richtig gesagt: Das Rednerpult des Parlaments ist das Zentrum unserer Politik. So ist es. Aufzustehen und sich zu getrauen, seine Meinung kundzutun, ist die Grundlage unserer Demokratie. Heute trauen sich viele Leute nicht, aufzustehen. So verlieren wir unsere demokratische Basis.
SN: Sie lehren auch Rhetorik. Verraten Sie ein paar Tricks, wie man gut redet? Es gibt Rhetorik-Trainer, die auf solche Tricks setzen, auch beim Trainieren von Politikern. Aber solche Politiker reden dann stereotyp, und wenn sie eine unerwartete Frage gestellt bekommen, sind sie mit ihren Textbausteinen am Ende. Das war übrigens genau der Einwand der griechischen Philosophen gegen die Sophisten. Sie haben gesagt, wenn du zu einem Sophisten gehst, um Rhetorik zu lernen, dann bekommst du ein ganzes Regal voll Schuhen, die du anziehen sollst, damit du gehen kannst. Aber du lernst nicht, wie man Schuhe macht. Zur Person Thomas Schirren: Der deutsche Altphilologe (Jahrgang 1965) beschäftigt sich mit antiker Philosophie und Rhetorik. 2007 wurde er als Professor für Gräzistik nach Salzburg berufen und hält hier auch Rhetorik-Seminare für Studenten ab.
„Vernunft und Rede hängen zusammen.“ Thomas Schirren, Professor