„Ich hatte meinen Superman gefunden“
Ein intelligenter Bub wird erfolgreicher Wissenschafter, aber sehnt sich nach Einsamkeit. Ist er gescheitert?
Mit vier Jahren brachte sich William Sidis selbst Latein und Griechisch bei. Mit sechs Jahren sprach er zehn Sprachen. Mit zehn Jahren referierte er vor Professoren in Harvard über seine Theorie der vierten Dimension. William Sidis, geboren 1898 in New York, war ein Wunderkind. Der dänische Schriftsteller Morten Brask, geboren 1970, ließ sich von dieser Biografie zu einem Roman inspirieren. „Das perfekte Leben des William Sidis“zeichnet in verschränkten Handlungssträngen das Schicksal dieses außergewöhnlichen Menschen nach.
SN: Herr Brask, wie kamen Sie auf die Idee, über das einstige Wunderkind einen Roman zu schreiben?
Morten Brask: Ich erfuhr durch Zufall von William Sidis. Es überraschte mich, dass sein Intelligenzquotient immer noch den Weltrekord hält. Zugleich war ich erstaunt, wie unbekannt er war. Ich hatte gar nichts von ihm gewusst. Aber als ich über ihn las, hatte ich das Gefühl: Das ist meine Geschichte. Darüber muss ich schreiben.
SN: Was faszinierte Sie?
Sein mathematisches Genie. Als Kind hatte ich in der Schule immer Probleme in Mathematik. Ich stellte mir damals vor, wie ich all die Aufgaben lösen könnte, wenn ich intelligenter wäre. Mit William Sidis hatte ich meinen Superman gefunden. Faszinierend sind auch die Lebensumstände seiner Eltern. Die hatten in der Ukraine eine schreckliche Jugend. Der Vater Boris wurde ins Gefängnis geworfen, weil er den Bauern Lesen und Rechnen beibrachte. Die Mutter Sarah musste als Kind ansehen, wie ihre Eltern von Räubern überfallen wurden. Aufgrund der Pogrome waren Sarah und Boris gezwungen zu fliehen. In New York lernten sie einander kennen. Das ist der Stoff, aus dem Romane gemacht werden. Auf der historischen Ebene sollte alles so korrekt wie möglich sein. Also forschte ich nach. Auch die Orte, an denen William Sidis war, bereiste ich, um mir ein Bild der historischen Tatsachen zu verschaffen.
Dann fülle ich diese Geschichte mit Leben. Der Roman ist meine Version von dem, was William Sidis war und wie sein Leben verlief. Das sind die Stärken eines Romans. Mit ihm kann man ein Leben interpretieren und versuchen, es zu verstehen.
SN: „William Sidis ist kein Genie. Er ist ein begabtes, aber ganz gewöhnliches Kind“, lassen Sie seinen Vater Boris betonen. Überzeugt Sie diese Theorie?
Boris Sidis wollte nicht wahrhaben, wie intelligent sein Sohn war. Dieses Bewusstsein, dass sein Vater ihn nicht verstand, muss eine Belastung für William gewesen sein. Die Theorie, die Boris mit seinem Freund und Kollegen William James entwickelte, war aus den Erfahrungen von Marathonläufen abgeleitet. Nach zwanzig Kilometern fühlen sich die Läufer meist am Ende. Aus der Erschöpfung heraus aber gewinnen sie plötzlich neue Kraft und Energie.
Das könne, so waren die beiden überzeugt, auch mit dem Gehirn geschehen. Sein geistiges Potenzial lasse sich ungeheuer erweitern. Boris Sidis formulierte mit seiner Theorie zugleich eine Kritik am amerikanischen Schulsystem. Er warf den Schulen vor, sie würden den Kindern nur Tatsachen vermitteln, statt ihnen das Denken beizubringen.
SN: Wie verbreitet war damals die Idee, dass man durch Erziehung und Bildung alles erreichen könne?
Diese Vorstellung war sehr verbreitet. Viele interessierten sich dafür. Auch an den Universitäten versuchte man zu verstehen, was Lernen an einem Kind zu bewirken vermag. Sigmund Freud in Wien setzte sich mit ähnlichen Fragen auseinander. Boris Sidis wurde in den USA mit Freud verglichen. Die beiden standen in Kontakt miteinander.
SN: Wikipedia zufolge hatte Boris Sidis mit seiner Frau Sarah zwei Kinder. Wenn alles nur eine Frage der Erziehung ist, müsste das zweite Kind ähnlich genial sein.
Williams Schwester Helena habe ich in meinen Roman nicht aufgenommen, weil sie wesentlich jünger war als er. Sie standen einander aber nahe. Auch als William den Kontakt zu seinen Eltern abbrach, traf er weiterhin mit Helena zusammen. Sie bewahrte alles von ihrem Bruder auf, seine Briefe und seine Bücher. Nach dem, was ich über Helena in Erfahrung bringen konnte, war sie extrem intelligent. Allerdings wurde sie von den Eltern nicht so unter Druck gesetzt wie ihr Bruder.
SN: Hat Boris Sidis zu viel Druck auf seinen Sohn ausgeübt?
Boris und Sarah Sidis waren beide hochintelligent. Für sie war alles Intellektuelle leicht. So hatten sie die Überzeugung, dass es das auch für ihren Sohn sein müsse. Sicher übten sie mehr Druck auf ihn aus, als Eltern dies gewöhnlich tun, und vor allem konzentrierten sie sich mit ihrer Erziehung zu sehr auf den intellektuellen Aspekt.
Als William Sidis erwachsen war, warf er seinen Eltern auch vor, dass sie ihn nicht mit anderen Kindern hätten spielen lassen.
SN: Es gab eine Frau in William Sidis’ Leben: die kommunistische Aktivistin Martha Foley, eine tragische Liebe.
Wir würden das so nennen, wenn man jemanden liebt und nicht bekommt. Aber es ist eine romantische Geschichte. Viele Jahre später trug William Sidis ihr Foto bei sich.
SN: Unliebsame Folgen hatte seine politische Aktivität mit Martha Foley.
Er kam ins Gefängnis. Historisch gesehen war es keine gute Idee, nach der Russischen Revolution in Amerika Kommunist zu werden. Bemerkenswert ist, dass William Sidis, als er bereits Professor für Mathematik war, Jus zu studieren begann. Schon als Sechsjähriger hatte er eine Verfassung ausgearbeitet. Das beschäftigte ihn später wieder. Er war kein Kommunist mehr, aber er trat für einen libertären Staat ein.
SN: „Die einzige Art, das perfekte Leben zu leben, ist, es in Einsamkeit zu leben“, lassen Sie William Sidis sagen. Klingt das nicht traurig?
William Sidis fühlte sich gedrängt und gejagt, von den Eltern, der Gesellschaft und der Presse. Das zeigt die Szene zu Beginn meines Romans, wenn der Zehnjährige vor über sechzig Professoren seine Theorie der vierten Dimension vorträgt. Auf seine Bedürfnisse wurde nicht eingegangen. Er wollte nicht berühmt sein. Er wollte Ruhe und Frieden. Aber er bekam nicht die Chance dazu. Darum suchte er Einsamkeit.
SN: Ist William Sidis gescheitert?
Ich sehe sein Leben nicht als gescheitert an. Wenn man Talente besitzt, aber sie nicht einsetzt, sondern es vorzieht, etwas anderes zu machen, ist man nicht gescheitert. Man hat sich anders entschieden. In den Augen der Gesellschaft mag William Sidis gescheitert sein, weil er kein Einstein wurde. Aber ich habe das Gefühl, dass er mit seinem Leben zufrieden war. Mir gefällt die Vorstellung, sein Leben selbst zu wählen.