Das Musikvideo feiert runden Geburtstag
Wie die Musik laufende Bilder bekam: Eine Kulturgeschichte der Musikvideos.
Gäbe es für die Kategorie der Musikvideos ein Königspaar, würden Madonna und Michael Jackson fest das Zepter in den Händen halten. Denn ihre Clips wie der Horrorkurzfilm „Thriller“oder Madonnas blasphemisch-laszives „Like a Prayer“sind Meilensteine des Genres ebenso wie Peter Gabriels Meisterwerk „Sledgehammer“.
So denkt man gemeinhin an die 1980er- und 1990er-Jahre, an MTV und das deutsche Senderpendant VIVA, wenn man über die Anfänge von Musikvideos sinniert. Rasch erscheinen vor dem inneren Auge zerzauste Vokuhilas und wuchtige Schulterpolster. Dass dieses Urteil vorschnell ist, belegt ein deutscher Kunstwissenschafter. Im soeben erschienenen Buch „100 Jahre Musikvideo – Eine Genregeschichte vom frühen Kino bis YouTube“zeichnet Martin Lilkendey die Biografie der Musikkurzfilme nach. Und die ist weit länger als gedacht.
Die Fährte legt der Autor in den Titel. Doch wie kann das Genre ein derart hohes Alter vorweisen, wenn die Videotechnik nur gut 40 Jahre jung ist? Der Irrtum beginnt laut Lilkendey in der Begrifflichkeit, denn Musikvideos sind technisch gesehen Musikkurzfilme, und so fällt deren Beginn zeitlich mit der Erfindung des Tonfilms zusammen.
1899, „als Produzenten noch Erfinder waren“, findet die erste öffentliche Vorführung eines solchen in Paris statt. Ein Jahr später begeistern weitere bei der dortigen Weltausstellung. Rasch halten Musikkurzfilme Einzug ins frühe Kino: Ein Grammofon samt Schellackplatte wird mit einem Filmprojektor synchron gleichgeschaltet.
Dem folgt die Kurzzeiterscheinung der Soundies: Jukeboxen, die während des Zweiten Weltkriegs den Jazz von Glenn Miller aufflimmern lassen. Den Durchbruch beschert das Fernsehen, doch nicht von Anfang an, denn in den 1970erJahren gilt es bei Musikfreaks als Sinnbild des Establishments. Mit der konsumorientierten Wende und dem Ende der Punkbewegung blüht ein Jahrzehnt später die Produktion von Musikvideos auf. Nun produziert die Musikindustrie selbst – zur Verwertung der Cashcow CD, resümiert Lilkendey.
Das jüngste Kapitel der Musikkurzfilme wird 2005 mit Videoplattformen aufgeschlagen. Nicht Musikverlage, sondern ein Do-ityourself-Publishing sichert heute das Publikum. Dabei geht der experimentelle Gedanke oft verloren, denn anstößige Inhalte werden für YouTuber rasch gesperrt.
Martin Lilkendey bleibt einem streng sachlichen Ton treu. So braucht man teils ein wenig Atem, um durchzuhalten. Für Liebhaber der Musik- und Filmgeschichte, die jenseits von Unterhaltung nach faktischem Wissen dürsten, ist das Buch eine lohnenswerte Lektüre.