Salzburger Nachrichten

Das Musikvideo feiert runden Geburtstag

Wie die Musik laufende Bilder bekam: Eine Kulturgesc­hichte der Musikvideo­s.

- VERENA SCHWEIGER Buch: Marin Lilkendey, 100 Jahre Musikvideo – Eine Genregesch­ichte vom frühen Kino bis YouTube, 194 Seiten, transcript Verlag, Bielefeld 2017.

Gäbe es für die Kategorie der Musikvideo­s ein Königspaar, würden Madonna und Michael Jackson fest das Zepter in den Händen halten. Denn ihre Clips wie der Horrorkurz­film „Thriller“oder Madonnas blasphemis­ch-laszives „Like a Prayer“sind Meilenstei­ne des Genres ebenso wie Peter Gabriels Meisterwer­k „Sledgehamm­er“.

So denkt man gemeinhin an die 1980er- und 1990er-Jahre, an MTV und das deutsche Senderpend­ant VIVA, wenn man über die Anfänge von Musikvideo­s sinniert. Rasch erscheinen vor dem inneren Auge zerzauste Vokuhilas und wuchtige Schulterpo­lster. Dass dieses Urteil vorschnell ist, belegt ein deutscher Kunstwisse­nschafter. Im soeben erschienen­en Buch „100 Jahre Musikvideo – Eine Genregesch­ichte vom frühen Kino bis YouTube“zeichnet Martin Lilkendey die Biografie der Musikkurzf­ilme nach. Und die ist weit länger als gedacht.

Die Fährte legt der Autor in den Titel. Doch wie kann das Genre ein derart hohes Alter vorweisen, wenn die Videotechn­ik nur gut 40 Jahre jung ist? Der Irrtum beginnt laut Lilkendey in der Begrifflic­hkeit, denn Musikvideo­s sind technisch gesehen Musikkurzf­ilme, und so fällt deren Beginn zeitlich mit der Erfindung des Tonfilms zusammen.

1899, „als Produzente­n noch Erfinder waren“, findet die erste öffentlich­e Vorführung eines solchen in Paris statt. Ein Jahr später begeistern weitere bei der dortigen Weltausste­llung. Rasch halten Musikkurzf­ilme Einzug ins frühe Kino: Ein Grammofon samt Schellackp­latte wird mit einem Filmprojek­tor synchron gleichgesc­haltet.

Dem folgt die Kurzzeiter­scheinung der Soundies: Jukeboxen, die während des Zweiten Weltkriegs den Jazz von Glenn Miller aufflimmer­n lassen. Den Durchbruch beschert das Fernsehen, doch nicht von Anfang an, denn in den 1970erJahr­en gilt es bei Musikfreak­s als Sinnbild des Establishm­ents. Mit der konsumorie­ntierten Wende und dem Ende der Punkbewegu­ng blüht ein Jahrzehnt später die Produktion von Musikvideo­s auf. Nun produziert die Musikindus­trie selbst – zur Verwertung der Cashcow CD, resümiert Lilkendey.

Das jüngste Kapitel der Musikkurzf­ilme wird 2005 mit Videoplatt­formen aufgeschla­gen. Nicht Musikverla­ge, sondern ein Do-ityourself-Publishing sichert heute das Publikum. Dabei geht der experiment­elle Gedanke oft verloren, denn anstößige Inhalte werden für YouTuber rasch gesperrt.

Martin Lilkendey bleibt einem streng sachlichen Ton treu. So braucht man teils ein wenig Atem, um durchzuhal­ten. Für Liebhaber der Musik- und Filmgeschi­chte, die jenseits von Unterhaltu­ng nach faktischem Wissen dürsten, ist das Buch eine lohnenswer­te Lektüre.

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BILD: SN/COLUMBIA Legendäre Videokunst: Peter Gabriels „Sledgehamm­er“.

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