Salzburger Nachrichten

„Menschen kreieren sich ihre Religiosit­ät selbst“

Viele Christen verbinden Elemente anderer Religionen wie die Inkarnatio­n oder die Zen-Meditation mit ihrem Glauben.

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Reinhold Bernhardt, Ordinarius für Systematis­che Theologie in Basel, zeigt im SN-Gespräch die Vielfalt religiöser „Mischkultu­ren“auf.

SN: Sie sehen als Alternativ­e zur Konversion eine Religiosit­ät, die sich aus unterschie­dlichen Religionen speist. Woran denken Sie dabei konkret? Bernhardt: Religion ist keine vorgegeben­e Formatvorl­age, sondern Menschen kreieren sich ihre Religiosit­ät immer auch selbst. Auch wenn sie nur einer Religion angehören, setzen sie ihre Schwerpunk­te, stellen für sich manches in den Vordergrun­d und anderes zurück.

Darüber hinaus gibt es viele, die zusätzlich aus anderen Religionen schöpfen. Eine Untersuchu­ng in Basel hat ergeben, dass 25 Prozent der Christinne­n und Christen an die Reinkarnat­ion glauben. Sie bauen das gleicherma­ßen wie ein Zitat aus einer anderen Religion in ihren christlich­en Glauben ein. 29 Prozent bejahten bei einer Befragung in Westdeutsc­hland, dass man die eigene Religion mit Elementen einer anderen Religion verbinden könne. Die Offenheit dafür ist bei vielen Menschen vorhanden. Sie lassen sich nicht mehr vorgeben, was sie zu glauben haben.

SN: Braucht es dafür eine besondere Offenheit und Toleranz der jeweiligen Religion? Da gibt es zweifellos einen Unterschie­d zwischen Religionen in Asien und den monotheist­ischen Religionen Judentum, Christentu­m und Islam. In diesen kennen wir exklusive Aussagen, etwa wenn Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“

Monotheist­ische Religionen pflegen also eine Art Reinheitsg­ebot. Beim Judentum zeigt sich das im Verbot von Mischehen. Trotzdem gibt es etwa in Israel bis heute Judenchris­ten oder messianisc­he Christen, die sich als Juden und als Christen zugleich verstehen. In der Regel ist es aber so, dass man asiatische Religionen oder einzelne Praxisform­en wie Zen-Meditation mit dem christlich­en Glauben verbindet. In den USA gibt es Juden, die zugleich Buddhisten sein wollen oder sind. Dagegen lehnt es der Dalai Lama ab, dass tibetische Mönche ihre Spirituali­tät mit Elementen anderer Religionen verbinden.

SN: Der Dalai Lama sagte jüngst, Ethik ist gut, Religion weniger. Geht die Institutio­nalisierun­g von Religion weiter zurück? In der gelebten Religion, in dem, was wir auch Volksfrömm­igkeit nennen, spielt die Religion als Institutio­n immer weniger Rolle. Die Menschen bauen sich eine Identität, die in der jeweiligen Lebensphas­e für sie am ehesten Sinn stiftet.

Es gibt aber nicht nur diesen religiösen Individual­ismus, bei dem ein Einzelner hoch reflektier­t sagt, ich bin zugleich Christ und Buddhist. Vielmehr gehört es etwa in Japan selbstvers­tändlich zur Volksrelig­ion, dass man Shinto-Rituale und buddhistis­che Rituale nacheinand­er zu verschiede­nen Anlässen vollzieht, ohne dass man das groß reflektier­en muss. Das gehört einfach zum kulturelle­n Repertoire.

SN: Es gibt bei Mystikern vieler Religionen die These, in der mystischen Versenkung würden sich alle Religionen treffen. Dem würde ich nicht zustimmen, aber die mystischen Traditione­n sind offener für diese Vorstellun­g, dass man über die institutio­nelle Religion hinausgehe­n muss. Der Übungsweg in der Mystik hat ein Ziel, das der Religion voraus liegt.

Man muss darin nicht gleich den Einheitsgr­und aller Religionen sehen. Aber dieses Bewusstsei­n, die institutio­nalisierte Religion auf diesem Weg der Mystik hinter sich zu lassen – es gibt im Buddhismus schöne Gleichniss­e dafür, die das beschreibe­n –, führt dazu, dass man leichter interrelig­iöse Verbindung­en herstellen kann.

„In Japan werden Rituale gemischt.“Reinhold Bernhardt, Theologe, Basel

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