Eine Tochter sehnt sich nach Herkunft
Eine Frau gerät in den Reißwolf zweier Diktaturen. Sie verzweifelt und stirbt. Dank Internet kann die Tochter jetzt den wenigen Spuren nachgehen.
Die längste Zeit wusste Natascha Wodin nichts über ihre Herkunft und ihre Familie. Sie war im Dezember 1945 in Fürth, in einem Lager für „Displaced Persons“, zur Welt gekommen. Sie wusste nicht, dass ihre Eltern Zwangsarbeiter gewesen waren – 1943 aus der Ukraine nach Leipzig verschleppt, wo sie in einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns geschunden wurden, ehe sie von den Alliierten befreit und in einem der Nachkriegslager für heimatlose Ausländer interniert wurden.
Als Natascha Wodin, die als Romanautorin und Übersetzerin in Berlin lebt, vor vier Jahren begann, ihre eigene Familiengeschichte zu erforschen, da hatte sie nichts in Händen außer einigen wenigen Andenken an ihre Mutter. Hinterlassen hatte die Mutter eine goldene Ikone, eine Heiratsurkunde, ausgestellt in Mariupol, einer ukrainischen Hafenstadt am Asowschen Meer, und drei alte Schwarz-Weiß-Fotos. Natascha Wodin konnte keine der Personen darauf, mit Ausnahme der Mutter, identifizieren. Sie selbst erinnert sich an ihre Mutter als eine schwer traumatisierte, verstörte Frau, die zuletzt verstummte und still aus dem Haus ging, um sich in der Regnitz zu ertränken. Sie war 36 Jahre alt, die Tochter war zehn.
Über die Suche nach den Lebensspuren ihrer Mutter hat Natascha Wodin nun ein aufwühlendes Buch geschrieben. „Sie kam aus Mariupol“passt in kein Genre. Es ist zugleich Totenehrung und nachgetragene Tochter-Liebe. Es verbindet FamilienArchäologie mit einer Entdeckungsreise in die eigene Herkunft. Und es ist eine Tiefenbohrung, die am individuellen Einzelschicksal ein bisher wenig erforschtes und von Historikern lange vernachlässigtes Kapitel der Zeitgeschichte zutage fördert – das Thema Zwangsarbeit im „Dritten Reich“. Miterzählt wird immer auch die unglaubliche Geschichte dieser Recherche, die hauptsächlich übers Internet gelaufen ist.
Die Autorin beginnt ihre Suche eher spielerisch damit, dass sie den Namen ihrer Mutter in eine russische Suchmaschine eingibt – und überraschend einen Treffer erzielt. Es ist ein erster Glückstreffer. Wodin kann die Spur ihrer Mutter aufnehmen.
Und so, Schritt für Schritt, eröffnet sich der Tochter die untergegangene Lebenswelt ihrer Mutter, die „in den Reißwolf zweier Diktaturen geraten war, zuerst unter Stalin in der Ukraine, dann unter Hitler in Deutschland“. Natascha Wodins Nachforschung umfasst ein Leben, das vom Zarenreich bis zu Adenauer reichte. Die Recherche führt sie auch tief hinein in die sowjetische Zeitgeschichte, die im kollektiven Bewusstsein jahrzehntelang so gut wie ausgelöscht war. Die Kontinuität von Traditionen und Erinnerungen war abgerissen, darüber durfte nicht gesprochen werden. Für ihr Erzählprojekt musste Natascha Wodin die vergessenen und verleugneten biografischen Fakten ihrer verschwundenen mütterlichen Familie geduldig rekonstruieren.
In den DP-Lagern Bayerns war Natascha Wodin im Gefühl aufgewachsen, „dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, der vom Krieg übrig geblieben war“. Nun fördern ihre Nachforschungen zu ihrem Erstaunen eine andere Herkunft zutage. Sie entdeckt, dass sie einer paneuropäischen, großbürgerlich-adeligen Familie entstammt, die tiefer im Westen als in der russischen Welt verwurzelt war. Ukrainische Großgrundbesitzer, baltische Adelige und reiche italienische Kaufleute und Reeder finden sich darin ebenso wie Intellektuelle, Wissenschafter, Professoren, Künstler und ein bekannter Opernsänger. Es finden sich allerdings auch Selbstmörder und sogar ein Muttermörder.
Mariupol, der Familiensitz, wird im Buch fassbar als lebhafte, multi-ethnisch geprägte Metropole mit griechisch-südlichem Flair. Wodin entdeckt auch sonderbare politische Widersprüche. Ihr Großvater war Revolutionär und wurde im Zarenreich nach Sibirien verbannt; doch seine älteste Tochter, Wodins Tante, wurde als Stalin-Gegnerin in den Gulag deportiert.
Wodin schreibt: „Der Lebensbeginn meiner Mutter markiert das Ende einer Epoche, den Untergang der zaristischen Welt. In den dreiundzwanzig Jahren ihres Lebens in der Ukraine spiegeln sich die Katastrophen dieser Jahre, Bürgerkrieg, Hungersnöte, Epidemien, Terror, Enteignungen, stalinistische Säuberungswellen, Krieg und Vernichtung.“
Und dann taucht plötzlich ein kostbarer Zufallsfund auf. Im sibirischen Haus eines Cousins werden beim Entrümpeln oben auf einem Schrank die vergessenen Tagebücher der Schwester der Mutter entdeckt – eben jener Tante, die unter Stalin in ein Zwangsarbeitslager in den Sumpf-Urwäldern Kareliens verschleppt wurde, worüber sie im Journal mit herzzerreißender Intensität schreibt. So lassen sich nun in den LagerSchicksalen der Schwestern die Zwangswelten des sowjetischen und des deutschen Gulag erzählerisch verbinden. Auf solchen labyrinthisch verschlungenen Wegen, aus realen Fundstücken, Erinnerungsfragmenten aus der eigenen Kindheit und penibler zeitgeschichtlicher Recherche, lässt Natascha Wodin das verschüttete Leben ihrer verloren gegangenen Mutter erstehen. Lücken und Leerstellen sind konstituierende Bestandteile dieses literarischen Verfahrens und werden durch begründete Vermutungen überbrückt.
Lakonisch und nüchtern führt Natascha Wodin den Leser durch die Verästelungen ihrer Familienforschung. Sie macht keine großen Worte. Sie vermeidet jeden rhetorischen Lärm und jeden Anflug von Pathos. Sie lässt die Dinge für sich selbst sprechen. Eine kühle Sprödigkeit, die jede Emotionalität zügelt, wird als Signatur dieses außerordentlichen Prosa-Werks erkennbar. Nicht nur in diesem Bücher-Frühling hat „Sie kam aus Mariupol“nicht seinesgleichen. Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol, 368 Seiten, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.