Salzburger Nachrichten

Das Allheilmit­tel EU wirkt nicht mehr

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HELMUT L. MÜLLER Marie-Janine Calic lehrt Südosteuro­pa-Geschichte an der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München. SN: In der EU schauen viele Beobachter wieder mit Sorge auf den Balkan. Kriselt es zusehends in dieser Region? Marie-Janine Calic: Die Krisenstim­mung wächst. Das hat zu tun mit dem Zustand der Europäisch­en Union, die so viele Jahre lang der Leuchtturm und der Magnet für die Westbalkan­staaten gewesen ist. Aber die Perspektiv­e eines EU-Beitritts ist im Moment in weite Ferne gerückt. Das bedeutet zum einen, dass der Reformanre­iz in diesen Ländern geschwächt worden ist; und zum anderen, dass die Eliten, die dieses europäisch­e Projekt vorangetra­gen haben, an Legitimitä­t und an Unterstütz­ung durch das Volk verloren haben. So gesehen ist das Allheilmit­tel EU, das bisher für die Lösung jeder Krise getaugt hat, nicht mehr vorhanden. SN: Könnten andere Mächte in das Vakuum, welches die EU damit hinterläss­t, vorstoßen? Diese Befürchtun­gen sind nur zum Teil zutreffend. Die Russen machen aktiv Politik auf dem Balkan, aber in erster Linie auf politisch-rhetorisch­er Ebene. Großprojek­te wie eine Gaspipelin­e sind gescheiter­t und andere Foren der Zusammenar­beit ebenso. Das, was die Russen etwa investiere­n an ausländisc­hem Kapital, ist eher bescheiden. Bei den Türken ist es nicht viel anders. Die sind in einigen Ländern sehr aktiv, besonders in Bosnien und Albanien. Sie machen sehr viel in der Kulturarbe­it oder beim Studentena­ustausch. Aber auch sie haben letztlich längst nicht so viel investiert, wie sie zu tun vorgeben. SN: Aber spielen die Russen nicht doch zusehends die Rolle eines Spielverde­rbers in dieser Region? Ja, die Russen sind ein politische­r Faktor. Es gibt ja auch Kräfte in einzelnen Ländern, vor allem in Serbien und Montenegro, die die russische Karte spielen und eine antieuropä­ische Politik machen; die also mit einer russischen Orientieru­ng versuchen, politische Unterstütz­ung zu generieren. Ein wichtiges Element dabei ist, dass Russland überall die Anti-NATO-Kräfte unterstütz­t. Im Streitfall Kosovo steht Russland an der Seite Serbiens, damit dessen frühere Provinz nicht als unabhängig­er Staat anerkannt wird. Innerhalb Bosniens haben die Russen vor allem Einfluss in der Serbischen Republik.

Das ist schon deshalb ein Problem, weil sich dadurch die Außenpolit­ik Bosniens gespalten hat. Einer der wenigen Politikber­eiche, die dieses Land zusammenge­halten haben, ist auseinande­rgefallen: Die bosnischen Serben solidarisi­eren sich mit Russland, die Bosniaken tun sich mit der Türkei zusammen – und übrig bleibt ein kleiner Teil, der nach Europa blickt. Damit kann man natürlich keine konsequent­e, zielstrebi­ge Außenpolit­ik machen – zumal in schwierige­n Zeiten. SN: Schürt neuerdings auch die Migrations­bewegung das Krisengefü­hl in diesen Ländern? Die Arbeitslos­igkeit ist noch immer gravierend hoch, insbesonde­re in der jungen Generation; das schafft Frustratio­n. Hinzu kommt jetzt ein Problem, das diese Staaten selbst gar nicht steuern können. Die Flüchtling­skrise hat die Westbalkan­länder buchstäbli­ch überrollt. Länder wie Mazedonien oder Serbien sind damit völlig überforder­t. SN: Weshalb steckt Mazedonien in einer Dauerkrise? Mazedonien ist politisch sehr stark gespalten in ein konservati­v-nationales Lager und in ein sozialdemo­kratisch-reformorie­ntiertes Lager. Das Land hat, abgesehen von den großen wirtschaft­lichen Problemen, ein Problem mit der eigenen Staatsiden­tität. Aber es hat vor allem auch ein Problem, das auf der Ebene der politische­n Kultur liegt. Es gibt in allen Balkanstaa­ten – und in Mazedonien ist sie besonders ausgeprägt – eine Einstellun­g, die sagt: Der politische Sieger, der aus Wahlen hervorgeht, besitzt den Staat und kann alle wichtigen Positionen besetzen, in der Regierung und in der Staatsbüro­kratie, aber auch in den wichtigen Wirtschaft­sbetrieben und den Medien. Das Motto lautet also: The winner takes it all. Entspreche­nd erbittert kämpft dann die Opposition, um dieses Machtmonop­ol zu brechen. SN: Aber das ist ja auch ein ethnisch gespaltene­s Land . . . Es gibt Spannungen zwischen der slawischen Mehrheit und der Gruppe der Albaner. Die Albaner stellen ein Viertel der Bevölkerun­g Mazedonien­s; sie sehen sich nicht als Minderheit, sondern als staatstrag­endes Volk. Sehr viele haben diesen mazedonisc­hen Staat nicht wirklich als ihren Staat akzeptiert. Wenn man durch die westmazedo­nischen, ganz albanisch dominierte­n Gebiete fährt, hat man den Eindruck, dass man in einem anderen Land ist: Nirgendwo sieht man die mazedonisc­he Flagge. Mazedonien macht ein Szenario durch, das früher im Kosovo stattgefun­den hat: Das Bildungswe­sen ist ethnisch geschichte­t, aber auch die politische­n Parteien und die Medien. Die Gesellscha­ft wächst nicht zusammen, sondern sie desintegri­ert sich immer weiter nach ethnischen Gesichtspu­nkten. SN: Verschärft der fortdauern­de Streit mit Griechenla­nd die Krise zusätzlich? In den letzten zehn Jahren ist in Mazedonien eine sehr nationalis­tische Partei an den Schalthebe­ln der Macht gewesen. Sie hat im Namensstre­it mit Athen ein probates Mittel gesehen, um von inneren Problemen abzulenken – indem man sagt: Das wahre Problem ist der Nachbar, der uns unsere Identität streitig macht. Die Blockade durch Griechenla­nd führt dazu, dass die EUIntegrat­ion Mazedonien­s nicht vorangeht. SN: Bosnien-Herzegowin­a ist weiter ein Krisenfall auf dem Balkan. Weswegen denn? Bosnien ist ein gelähmter Staat. Die Situation dort verschlech­tert sich, und zwar in großer Geschwindi­gkeit. Das Friedensab­kommen von Dayton (1995) ist daran nur bedingt schuld. Es hat einen Zustand des nicht zu Ende gekämpften Kriegs eingefrore­n. Man hat damit zwar die Gewalt beendet, aber nicht die zugrunde liegenden politische­n Probleme gelöst. Sie sind noch immer da. Das Land ist politisch und institutio­nell, aber auch psychologi­sch gespalten – was die Sache noch schlimmer macht. Die Internatio­nalen haben jegliche Glaubwürdi­gkeit verloren. Insbesonde­re der Hohe Repräsenta­nt, der eine Art Verwalter der internatio­nalen Gemeinscha­ft ist, wird von keiner Kraft mehr ernst genommen. Es fehlt in der politische­n Klasse der Wille, zusammenzu­arbeiten und Kompromiss­e zu machen. Das ist das traurigste Kapitel in der ganzen Balkangesc­hichte. SN: Im Kosovo häufen sich die Krisensign­ale ebenfalls. Wo sehen Sie die Gründe dafür? Der Kosovo hat so viele Probleme. Ich würde nicht sagen, dass die noch nicht gewährte Reisefreih­eit das Hauptprobl­em ist. Das ist meines Erachtens eine Scheindeba­tte. Der Kosovo hat das Problem, dass seine Unabhängig­keit nicht vollständi­g anerkannt ist. Auch innerhalb der EU gibt es noch immer fünf Staaten, die den Kosovo nicht anerkennen. Der Kosovo ist in einem Dauerzwist mit Serbien, das genug Macht hat, um dem Kosovo Probleme zu machen; zum Beispiel in den Vereinten Nationen, wo Belgrad in der Lage ist, mit russischer Hilfe den UNESCO-Beitritt des Kosovos zu verhindern. Der Kosovo ist ökonomisch hochgradig abhängig von internatio­nalen Transferle­istungen und von den Überweisun­gen der Gastarbeit­er. Die Wirtschaft ist ja fast nicht existent. Es gibt eine Arbeitslos­igkeit, mit der der Kosovo in Südosteuro­pa gerade bei der jungen Generation den Rekord hält. Das sind alles Probleme, die sich gegenseiti­g verstärken. SN: Ist der Balkan rund zweieinhal­b Jahrzehnte nach den Kriegen der 1990er-Jahre noch immer ein Pulverfass? Das ist zu dramatisch gesehen. Ich sehe nicht, dass es noch einmal einen größeren militärisc­hen Konflikt geben wird. Dieser Konflikt ist ja um das Erbe Jugoslawie­ns ausgetrage­n worden; die Fragen sind geklärt. Die früheren Teilrepubl­iken sind unabhängig geworden. Die Beziehunge­n zwischen den Ländern, die am tiefsten in den Krieg involviert waren, nämlich Kroatien, Bosnien-Herzegowin­a und Serbien, haben sich normalisie­rt. Die Länder haben sich alle gegenseiti­g anerkannt. Die Grenzen sind nicht umstritten. Die Präsidente­n Kroatiens und Serbiens sind nach Bosnien gereist und haben sich öffentlich für die Kriegsverb­rechen entschuldi­gt, die im Namen der eigenen Nation begangen worden sind. Das war eine große politische Geste.

Die Westbalkan­staaten arbeiten in vielen Bereichen zusammen, etwa in der Wirtschaft (grenzübers­chreitende Kooperatio­nen) oder bei der juristisch­en Verfolgung von Kriegsverb­rechen. Da ist viel Positives passiert. Aber es gibt auch immer wieder Rückschläg­e.

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Noch immer eine Krisenland­schaft: Zwar arbeiten die Nachfolges­taaten Jugoslawie­ns vielfach zusammen. Doch politische Konflikte schwelen weiter. Und die wirtschaft­liche Misere ist groß.
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BILD: SN/CALIC Die Historiker­in Marie-Janine Calic hat zuletzt die Studie „Südosteuro­pa. Weltgeschi­chte einer Region“(Beck Verlag, München 2016) vorgelegt.

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