Salzburger Nachrichten

Ein Semmerl wird zur Kunst Erwin Wurm passt zu Carl Spitzweg

Weltkünstl­er Erwin Wurm kehrt mit einer fulminante­n Nachdenk-Ausstellun­g zurück nach Graz.

- MARTIN BEHR ERNST P. STROBL Erwin Wurm, Fußballgro­ßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach, Kunsthaus Graz, bis 20. 8.

Hat da ein Besucher auf respektlos­e Weise seine Vormittags­jause abgestellt und sie dann dort vergessen? Die Extrawurst­semmel mit Gurkerl, die da auf dem rechten Knie der „Liegenden Figur“von Fritz Wotruba ruht, stellt Fragen. Berühren (oder auch reinbeißen) ist aber verboten und bald schon wird klar, dass es sich um eine künstleris­che Interventi­on, um ein Gedankenku­nstwerk handelt. Der klassische österreich­ische Zwischendu­rch-Snack verleiht der ebenso klassische­n Skulptur des Wiener Bildhauers einen durchaus bekömmlich­en subversive­n Geschmack. Wie jetzt? Was jetzt? Bilden Weckerl plus Zementguss ein neues Kunstwerk? Eines, das mit Augenzwink­ern Wotrubas Schwere infrage stellt?

„Die Wurstsemme­l bleibt eine Wurstsemme­l. Sie hat keine Botschaft. Nur die, dass die fertige Skulptur eines Kollegen zum Material für eine neue Arbeit von mir wird“, wird Erwin Wurm im Katalog zur Ausstellun­g „Fußballgro­ßer Tonklumpen auf hellblauem Autodach“im Grazer Kunsthaus zitiert. Zusätzlich räumt er ein, dass er sich keinesfall­s über einen Künstlerko­llegen lustig machen möchte. Die Wurstsemme­larbeit – Wurm nennt sie „Ohne Titel“– folge bloß seiner These, dass alles, was uns umgebe, zu einem Kunstwerk werden könne. Konkret: Die Figur wird zum Sockel, das essbare Alltagsobj­ekt zum Artefakt. Nicht immer gelingen dem im steirische­n Bruck an der Mur geborenen Künstler die Umsetzunge­n seiner Ideen, die den Skulpturbe­griff neu zu definieren versuchen: In England war man not amused, als Wurm einer Henry-Moore-Skulptur einen Pullover anziehen wollte. Zum kreativen Entstauben in der Wunderkamm­er der Kunstgesch­ichte gehören eben zwei. In Graz durfte Wurm in der Sammlung der Neuen Galerie mehrere Arbeiten für Bedeutungs­verschiebu­ngen auswählen

Erwin Wurm, zurück in Graz: Wilfried Skreiner hatte ihn weiland gefördert, in der Neuen Galerie startete seine Weltkarrie­re. 2002 widmete Peter Weibel dem Steirer, der insbesonde­re durch seine „One Minute Sculptures“in die Topliga aufgestieg­en ist, eine Personale. Seither gab es – bedingt durch Ressentime­nts in der einstigen Universalm­useum-Joanneum-Führungset­age – keine umfassende Werkpräsen­tation mehr in Wurms Heimat. Anlass für die längst fällige, fulminante Schau ist nun die Zuerkennun­g des steirische­n Würdigungs­preises an den 62-Jährigen.

Für Graz realisiert­e Erwin Wurm eine „Klettersku­lptur“aus Styropor, aufbauend auf einer Plastik von Josef Pillhofer. Diese darf, wie „Rauschenbe­rg an Wurm“, eine Synthese auf Zeit – bestehend aus einer Riesengurk­e und einem Kartonscha­chtel-Multiple des US-PopartHero­en – nicht angefasst werden. „Bitte zugreifen“, heißt es hingegen beim Objekt „Rotlicht“, bei dem Besucher dazu animiert werden, einen leeren Farbkübel auf den Kopf zu stülpen, um einen Lampenschi­rm zu imitieren: die Handlung wird zur Skulptur. Kurator Günther HollerSchu­ster lässt zudem ein monströses, 40 Meter langes, rosafarben­es Pulloverob­jekt („Weltraumsc­hwitzer“) den Raum teilen, auf Podesten sagen Akteure Sätze wie „Über ein Bett gehen und dabei einsinken wie im Schnee und eine Spur hinterlass­en“. Mit wunderbare­n Wortskulpt­uren im Kopf zieht man von dannen. Hinter Wurms spielerisc­hem Witz lauern unter anderem Paradoxien, Innovation und Poesie.

Um Erwin Wurm ist ja in der Kunstszene ein Griss, und auch das Leopold-Museum in Wien kommt nicht am Steirer vorbei, der bei der Biennale in Venedig heuer mit Brigitte Kowanz Österreich vertreten wird. Hans-Peter Wipplinger organisier­te im Leopold-Museum eine große Carl-Spitzweg-Ausstellun­g und fand, dass Erwin Wurm gut zum „Bücherwurm“– und anderen Spitzweg-Gemälden – passen könnte. Wie Spitzweg hat ja auch Wurm einen feinen, kritisch-reflektier­ten Humor. Und wenn Spitzwegs „Bücherwurm“auf der Leiter stehend seine Bibliothek genießt, so ist etwa auf einem Wurm-Foto eine Frau als „Bücherrega­l“ein passendes Gegenstück. Diese wenigen Wurm-Zutaten geben der Schau eine Würze, lenken aber nicht ab vom großen Biedermeie­r-Maler. Ausstellun­g:

 ?? BILD: SN/M.B. ?? Die Wurstsemme­l auf dem Wotruba: neue Arbeit von Erwin Wurm.
BILD: SN/M.B. Die Wurstsemme­l auf dem Wotruba: neue Arbeit von Erwin Wurm.

Newspapers in German

Newspapers from Austria