Die Angst der Eltern vor dem leeren Nest
Wenn die erwachsenen Kinder ausziehen, hinterlässt das eine Lücke. Psychologen sprechen vom „Empty Nest Syndrome“.
Kindergarten, Volksschule, Gymnasium, Matura: Die Jahre verfliegen – und plötzlich ist der Tag da, an dem die großen Kinder ausziehen.
Zurück bleibt die Stille im Haus – und ein leeres Kinderzimmer. Wenn nach einer Trennung auch kein Partner mehr da ist, schmerzt den Vater oder die Mutter die neue Einsamkeit noch mehr.
Viele Eltern haben ein Problem damit, die erwachsenen Kinder loszulassen und deren Weggang aus dem Elternhaus zu akzeptieren. Als das erste ihrer vier Kinder auszog, sei plötzlich eine „große Lücke“entstanden, sagt Gerlinde Unverzagt. „Als der Sohn in eine eigene Wohnung gezogen ist, ging es mir ein paar Tage lang wirklich schlecht. Das war wie Liebeskummer, nur schlimmer. Ich habe gesehen, dass das Familienleben, das ich 20 Jahre hatte, vorbei war.“Die deutsche Journalistin, die vor Jahren mit ihrem „Lehrerhasserbuch“für Aufregung gesorgt hatte, beobachtete dieses Phänomen nicht nur bei sich, sondern auch bei anderen Familien. Sie hat mit Vätern, Müttern und Experten gesprochen und ihre Erfahrungen nun in Buchform veröffentlicht („Generation ziemlich beste Freunde“, Beltz Verlag). Tatsächlich haben so viele Eltern Probleme mit dieser Trennungsphase, dass es dafür einen eigenen Fachausdruck gibt: „Empty Nest Syndrome“– die Angst vor dem leeren Nest. Der Begriff umschreibt eine Gefühlslage von Einsamkeit und Trauer – eine Krisensituation, die sich nach dem Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haus einstellen kann. Dieses Syndrom geht zeitlich oft einher mit der Menopause und den damit verbundenen Umbrüchen.
Zwar muss allen Eltern klar sein, dass der Zeitpunkt, ab dem die Söhne und Töchter endgültig ein eigenes Leben beginnen, früher oder später kommen muss. Doch wenn es so weit ist, fühlen sie sich dennoch wie vor den Kopf gestoßen. Das liege daran, dass die Beziehung der Eltern zu den Kindern heute im Regelfall sehr eng sei, sagt Unverzagt. „Die Eltern wollen um jeden Preis die besten Freunde ihrer Kinder bleiben, weil sie emotional so bedürftig sind.“
Der Auszug der Kinder bedeutet auch nicht unbedingt, dass die Eltern wieder zu inniger Zweisamkeit zurückfinden. Oft ist das Gegenteil der Fall: Gerade in diesem Moment erkennen Paare, wie sehr sie sich auseinandergelebt haben. Entsprechend hoch ist die Zahl der Scheidungen in dieser Lebensphase.
Die vierfache Mutter und Alleinerzieherin Unverzagt rät den Eltern, sich früh auf den Moment des Loslassens vorzubereiten. Wenn es so weit ist, sollte man die Söhne und Töchter „zuversichtlich lächelnd“in ihr eigenes Leben entlassen – und zulassen, dass sie manchmal „auf die Schnauze fallen“.
Sie selbst habe sich trotz der anfänglichen Trennungsschmerzen bald wieder erholt – und die Vorteile des neuen Lebensabschnitts für sich entdeckt, sagt Unverzagt: „Wenn die Kinder gehen, hinterlassen sie ja einen Freiraum. Ich habe jetzt mehr Zeit für meine Arbeit – und ich habe begonnen, Klavier zu spielen.“
„Eltern wollen die besten Freunde sein.“