Sexualmoral auf dem Prüfstand
Legalisierung von Homosexualität, Frauenrechte, freizügige Datingshows im Fernsehen – seit Jahresbeginn werden im Libanon Tabus der arabischen Welt gebrochen.
Für die arabische Welt war das Urteil, das der libanesische Richter Rabih Maaluf im Jänner fällte,ein juristischer und gesellschaftlicher Meilenstein: Er verwarf die Anwendung von Paragraf 534 des libanesischen Strafgesetzes, der die öffentliche Moral schützen soll, indem er „Geschlechtsverkehr wider die Natur“– also Homosexualität – ahndet.
Doch Maaluf entschied, die in Artikel 183 garantierte persönliche Freiheit wiege mehr und sprach sechs Transsexuelle frei, die wegen ihrer Neigung in Haft saßen. Es war nicht der einzige Richterspruch zugunsten von Homosexuellen im Libanon, aber der erste, der deren Rechten ein stabiles, juristisches Fundament verlieh. Und das ist nicht der einzige Tabubruch in einer Region, in der Homosexualität mancherorts immer noch mit dem Tod bestraft wird.
Libanons Datingshow „Naaschat“(Umgangssprache für: „Punkte!“) des Senders LCBI bricht zur selben Zeit andere gesellschaftliche Normen: Männer ringen hier um die Gunst von dreißig selbstbewussten Damen, die frei wählen können, mit wem sie auf ein Date gehen. Lässig witzelt man hier über sexuelle Präferenzen und außerehelichen Sex. Wird Beirut, seit eh und je für seine wilden Partys bekannt, jetzt zur Speerspitze einer arabischen sexuellen Revolution?
Denn die wünschen sich immer mehr Kritiker. Eine Reihe von Berichten der Vereinten Nationen machte bereits vor Jahren mangelnde Emanzipation als eine der Hauptursachen für Arabiens Rückständigkeit aus. Laut der ägyptischen Feministin Mona Eltahawy rühren mangelnde Frauenrechte von einer „giftigen Mischung von Kultur und Religion“. Die in Deutschland lebende türkisch-muslimische Autorin Seyran Ates spricht von „fatalen“Folgen sexueller Unterdrückung „für eine ganze Kultur“. Eine freie Gesellschaft brauche „eine freie Lebensgestaltung“.
Eine Freiheit, die das religiöse Establishment konsequent unterbindet. Radikale Prediger, die in der Region zu berühmten Fernsehstars geworden sind, liefern ständig neue Fatwas (religiöse Gutachten), um ihre von Männern dominierte, heterosexuelle Welt aufrechtzuerhalten. Manche erscheinen schlicht grotesk. Zum Beispiel, als ein Prediger Frauen untersagte, Bananen anzufassen, oder als Imame diskutierten, Frauen seien vielleicht doch keine Gegenstände, sondern Säugetiere mit eigenen Rechten. Das öffentliche Klima ist streng puritanisch. Alles, was Frauen oder Sexualität betrifft, ist verboten: In Algerien werden Parkbänke zersägt, damit Männer und Frauen nicht zusammensitzen können, selbst Ehepaaren verbietet die Polizei, Hand in Hand zu gehen. Noch härter trifft es Homosexuelle. Im Libanon haben 80 Prozent der Bevölkerung laut einer Studie des Forschungsinstituts Pew eine negative Haltung ihnen gegenüber, in Ägypten sind es 95 Prozent. In Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten steht auf gleichgeschlechtlichen Verkehr der Tod.
Der „arabische Frühling“verhieß besonders in Frauenfragen einen Wandel: Heute sind 15 Prozent der Abgeordneten in Ägypten Frauen – so viele wie nie. Ähnlich in Tunesien, wo Frauen zudem ein Drittel der Richter und Ingenieure und 40 Prozent der Anwälte stellen. In den Revolutionen in Ägypten, Libyen und Jemen spielten Frauen anfangs wichtige Rollen. Sie wollten sich damit nicht nur von politischer Unterdrückung befreien, Gil Yaron berichtet für die SN über den Libanon sondern auch vom Chauvinismus. Das will das konservative Lager nicht tolerieren. Es versucht, Emanzipation aufzuhalten: „Der Wandel in der arabischen Welt wird von zwei großen Hürden konfrontiert: Despotismus und dem blutrünstigen, radikalen Islam“, sagt der Marokkaner Rachid Boutayeb, Autor des Buchs „Orgasmus und Gewalt“, über den sexuellen Diskurs im Islam. Das gilt selbst im eigentlich liberalen Libanon. Die Fernsehshow „Naaschat“löste einen Aufschrei aus. Nach einer besonders freizügigen Episode, in der ein Rechtsanwalt bis auf die Unterhosen strippte, um die Damen zu beeindrucken, wurde der Moderator Fuad Jamin Ende Jänner wegen „Verletzung der öffentlichen Moral“verklagt. Ihm droht eine Geldstrafe, vielleicht auch ein Sendeverbot. Libanons Informationsminister Melhem Riachi erwägt den Erlass neuer Richtlinien gegen „unmoralische“Sendungen: „Wir wollen die Medien nicht unterdrücken, sondern nur deren Ethik bewahren“, versichert er. Die neuen Richtlinien könnten eine Reaktion auf Druck von Seiten der schiitischen Hisbollah sein, einer strikt religiösen Partei, die dank ihrer Miliz stärkste Macht im Libanon ist.
Überhaupt scheint die Hisbollah ihre konservative Weltanschauung immer härter durchsetzen zu wollen, vor allem im Süden des Landes, wo ihre Macht fast uneingeschränkt ist. So wollte der Stadtrat im südlibanesischen Dschibschit im Juli 2016 Frauen den Zugang zu Internetcafés verbieten und alle Vergnügungsstätten während der Gebetszeiten schließen. Im nahen Al Khiam untersagte der Bürgermeister, ein Mitglied der Hisbollah, Frauen die Teilnahme am örtlichen Marathon. Dreizehn Damen liefen aus Protest dennoch mit. Im Dezember 2016 platzte an der Universität in Beirut fast eine Gedenkveranstaltung für Studenten, die bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, als Hisbollah-Anhänger es untersagten, bei der Zeremonie Aufnahmen der weltberühmten libanesischen Sängerin Fairus abzuspielen. Im Jänner 2017 versuchten schiitische Stadträte, alle Spirituosengeschäfte im Landkreis Nabatia zu schließen – zogen ihr Vorhaben jedoch nach Massenprotesten zurück.
Und so ist selbst im Libanon noch lange nicht klar, ob eine neue Freizügigkeit oder alte Züchtigkeit das öffentliche Leben bestimmen wird.
Einerseits bezeichnet die „Gesellschaft muslimischer Gelehrter im Libanon“das historische Urteil des Richters Maaluf als „Schock für unsere Gesellschaft“. Immer noch werden Homosexuelle verhaftet, gefoltert und diskriminiert. Doch zur selben Zeit thematisiert das Theaterstück „Kafas“auf einer Bühne in Beirut lesbische Orgasmen. Libanons Psychiaterverband erklärte bereits 2013, Homosexualität sei keine Krankheit, und fordert seit zwei Jahren, endlich den Paragrafen 534 gegen „widernatürlichen Sex“zu annullieren, der von der französischen Mandatsmacht eingeführt wurde. Die Organisation Helem für Homosexuelle traute sich gar, in Libanons Hauptstadt ein Zentrum zu eröffnen: „Endlich gibt es den Freiraum, um über sexuelle Rechte zu debattieren“, sagt dessen Direktor Genwa Samhat.
Seyran Ates ist deswegen vorsichtig optimistisch: „Die sexuelle Revolution Arabiens hat längst begonnen. Vorerst spielt sie sich aber vor allem im privaten Bereich ab.“