Salzburger Nachrichten

„Wir hatten unseren Ausnahmezu­stand längst“

Schon vor dem Putschvers­uch waren türkische Wissenscha­fter im Visier der Regierung.

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WIEN. Mehr als 4000 Akademiker wurden in der Türkei seit dem Putschvers­uch im Juli des vergangene­n Jahres entlassen. Seither erlaubt der Ausnahmezu­stand, Staatsbedi­enstete per Dekret und quasi über Nacht zu entlassen. „Wenn man auf der schwarzen Liste steht, dann ist man raus aus dem Betrieb, der Pass wird einem abgenommen und es wird auch schwer, in der Privatwirt­schaft noch einen Arbeitspla­tz zu finden“, berichtete die türkische Wissenscha­fterin Asli Odman gestern, Donnerstag, bei einem Besuch in Wien.

Die Soziologin und Historiker­in hatte bislang Glück. „Ich habe meine Arbeit noch nicht verloren“, erzählt sie. Ihre Universitä­t hat kein Disziplina­rverfahren gegen sie eingeleite­t, nachdem sie im Jänner des vergangene­n Jahres eine Friedenspe­tition zum Konflikt mit den Kurden unterzeich­net hatte.

Damals hatten die Entlassung­en in ihrem berufliche­n Umfeld angefangen. „Wir haben unseren Ausnahmezu­stand in der akademisch­en Welt schon vor dem Putschvers­uch gehabt“, sagt Odman. Dass sie vonseiten ihrer Universitä­t nicht belangt wurde, ist eine Ausnahme. Nur an fünf öffentlich­en Universitä­ten habe die Leitung keine Verfahren gegen Unterzeich­ner der Petition eingeleite­t, berichtet Odman. Viele Kollegen seien bereits entlassen worden – was auch ihr trotz allem noch blühen könnte.

Gegen alle 2000 Unterzeich­ner der Petition wurden Strafverfa­hren eingeleite­t. Der Vorwurf ist noch nicht präzisiert. „Es ist nicht klar, unter welchem Artikel der Prozess geführt wird“, sagt die Soziologin, möglich sei eine Anklage wegen Beleidigun­g des Türkentums oder wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Organisati­on.

Mit jenen Kollegen, die nach einem Disziplina­rverfahren ihre Arbeit verloren haben, erklären sich viele solidarisc­h. „Wir haben unsere Gehälter und unsere Kurse aufgeteilt“, berichtet Odman. Außerdem seien in mehreren Gegenden der Türkei Solidaritä­tsakademie­n entstanden, an denen die entlassene­n Professore­n nun Vorlesunge­n, Konzerte oder Workshops abhalten.

Massive Veränderun­gen in der wissenscha­ftlichen Welt der Türkei gibt es bereits, seit die AKP-Regierung an der Macht ist. Seither wurden viele neue Universitä­ten gegründet, vor allem in den Provinzen. Freiheit in der Lehre gebe es dort kaum, sagt Odman. „Ich arbeite in Istanbul an einer Universitä­t, die schon 140 Jahre alt ist. Hier gibt es andere Werte, denen die Universitä­t verpflicht­et ist.“

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