„Ich habe das Modell im Kopf“
Kleiderkunst. In ihrer Fantasie erfindet Erika Navas für jede Figur eine eigene Geschichte und kleidet sie danach ein.
Der Empfangssalon ist von minimalistischer Eleganz: Wände in sanftem Weiß, heller Marmorboden, warmes Licht von der Decke, duftende Mimosen auf dem Tisch, ein Schminktisch, von Glühbirnen umrahmt, Kleider und Anzüge gedrängt an einem Ständer und vier kostümierte Schneiderpuppen. „Seit zwölf Jahren arbeite ich regelmäßig für die Festspiele Reichenau“, sagt die Kostümbildnerin und Stilberaterin Erika Navas. „Diese Kleidungsstücke sind für die aktuelle Saison.“
Eines springt ins Auge: ein cremefarbener Rock und eine ebenso helle, aber brüchige Bluse mit gehäkelten Knöpfen. Liebevoll streicht die gelernte Schneiderin, die auch ihren Salon selbst eingerichtet hat, über das filigrane Oberteil. „Jahrhundertwende“, sagt sie. „Ich habe die Bluse auf einem Flohmarkt in Paris gefunden. Jetzt brauche ich sie für die Produktion ,Spiel der Sommerlüfte‘.“
Arthur Schnitzler hat dieses melancholische Stück 1929 geschrieben – mit seinen typischen Figuren aus gutbürgerlichem Milieu. Den Rahmen bilden ein Dorf und eine gewittergeladenen Sommernacht, in der alle Beteiligten aus ihren gewohnten Bahnen ausbrechen und ihren Sehnsüchten nachgeben, bis der Wind sie wieder verweht.
Die nicht mehr junge Josefa, gespielt von Julia Stemberger, wird diese wunderfeine Bluse tragen. „Nein, nicht genau diese – der Stoff hält nichts mehr aus“, sagt Erika Navas. „Es ist ein Modell. Die Originale werden nachgenäht, aber so, dass niemand den Unterschied bemerkt. Das Vergängliche zu bewahren, die Technik zu erforschen, damit das Wiederherstellen gelingt, hat mich immer fasziniert.“
Sie holt zwischen den anderen Kostümen an der Kleiderstange ein bereits nachgeschneidertes langes, weißes, ärmelloses Spitzenkleid für ein Mädchen aus dem Schnitzler-Stück. Es hängt wie zufällig neben der schwarzen, strengen Soutane für Marcello de Nardo, der einen Priester und dessen Zwillingsbruder darstellen wird.
Erika Navas, die heuer für alle Inszenierungen der Festspiele Reichenau die Kostüme entwirft, ist auf Reproduktion von Röcken, Blusen, Kleidern, Anzügen aus vergangenen Zeiten spezialisiert. Was sie nicht selbst schneidert, treibt sie vielerorts auf – auf Flohmärkten, in Kleidergeschäften und vor allem in ihrem Fundus mit seinen 40.000 Stücken. Der ist für jeden, der Verkleidung und Kleidung liebt, eine Fundgrube. Gelernt hat sie diese Kunst in fünfjähriger Ausbildung an der Wiener HTL Bekleidungsgewerbeschule, einem Überbleibsel aus der Monarchie, wo auch Haute-Couture-Verarbeitung unterrichtet wurde und wird. Achtzehn Kostüme sind allein für das „Spiel der Sommerlüfte“notwendig, rund hundert für das Festival insgesamt. Dabei achtet die Kostümbildnerin sorgsam darauf, dass man an Textilien und Accessoires den Geist der jeweiligen Zeit erspüren kann. Nun holt sie einen rosafarbenen, biedermeierlich gemusterten Stoff vom Kleiderhaken und hält eine alte Spitze davor. „Das bekommt wahrscheinlich die Gusti. Ich brauche das Modell nicht zu zeichnen, ich habe es im Kopf. Ich muss nur wissen, welche Charaktere ich bekleide: Sind sie lieblich? Frech? Ein Paar? Gibt es Nebenbeziehungen? In welcher Zeit, welchem Milieu leben sie? “
Alles beginnt mit einer Regiebesprechung, in diesem Fall mit Beverly Blankenship, um das Konzept zu erfahren. Dann stellt sie Fotos aus der jeweiligen Umgebung und in bestimmten Farbkombinationen zusammen, damit die Atmosphäre des Kostüms und des Trägers und der Trägerin entsteht. „Ich erfinde für jede Figur eine eigene Welt und führe dann alle zusammen“, sagt Erika Navas. „Mir geht es beim Kostüm immer um das Gesamtbild: Wie ein Gemälde soll es wirken.“
Die gebürtige Mexikanerin mit österreichischer Mutter, die ihre ersten sechs Lebensjahre in Mexiko City im väterlichen großbügerlich-reichen Haus verbracht hatte, wuchs in bescheidenen Wiener Verhältnissen auf und studierte nach der HTL an der Hochschule für Angewandte Kunst Bühnenkostüm. Damals riet ihr Gastprofessor Erwin Piplits, in die Malerei zu wechseln.
Das tut sie erst heute. Sie besucht zurzeit einen Atelierkurs bei Christian Ludwig Attersee. Aber nicht nur – gerade hat sie einen Buchbinder-Workshop absolviert: Sie will ihre unzähligen Arbeiten, die in grauen Ordnern aufgereiht sind, in selbst gebundenen bunten Büchern sehen.
Sie hat alle Theaterproduktionen von Michael Schottenberg, Regisseur und ehemaliger Volkstheaterdirektor, sowie Inszenierungen an anderen deutschsprachigen Bühnen ausgestattet. Zudem ist sie als Kleiderkünstlerin für Kino- und TV-Filme gefragt: Alle wichtigen Regisseure der österreichischen Szene haben sie an Bord geholt – von Michael Haneke über Paulus Manker, Wolfram Paulus, Michael Schottenberg, Reinhard Schwabenitzky, Franz Nowotny bis Milan Dor. Auch Kostüme populärer TV-Serien kamen von ihr: für „Tatort“, „Kommissar Rex“, „Julia“mit Christiane Hörbiger oder „Soko Kitz“.
Geweckt wurden Erika Navas’ Liebe zum Weggelegten, die Lust am Sammeln und die Freude am Gestalten schon als Kind: Der Großvater war Perlmuttknopfdrechsler. Zu Hause gab es noch viele Schachteln mit Perlmuttknöpfen, mit denen Erika begeistert spielte und damit Bilder und Ornamente gestaltete. Mit zwölf begann sie, für sich Hosen und Kleider zu nähen. „Glücklicherweise hatte meine Tante eine Nähmaschine“, sagt Erika Navas. Später schneidert sie in einer Bassenawohnung schicke Outfits für „berühmte Leute“und sammelt Knöpfe aus aufgelassenen Knopfgeschäften, alte Spitzen und Bekleidung.
Als es zu eng wird, mietet sie Nachbarwohnungen für Werkstatt und Fundus an, denn die Sammlung wächst und wächst. Heute verfügt sie über 500 Quadratmeter im ehemaligen Konsum-Supermarkt im 18. Bezirk mit eigenem Vintage-Bereich. Sie ist froh, wenn ihre Tochter Paulina, die in Brighton Risk-Management studiert, ihr manchmal als Assistentin beisteht.
Voller Stolz führt Erika Navas Besucher durch ihr buntes, aus eigener Kraft geschaffenes Reich. Sie bleibt bei den Schuhen stehen, zeigt auf die Hüte-Sammlung und freut sich über die Reihe mit den Schürzen. Sie weiß genau, wo sich welches Kleidungsstück oder Accessoire befindet. Und lachend sagt sie: „Ich bin ein Messie, der Ordnung hält.“
„Das Vergängliche zu bewahren hat mich immer interessiert.“