Salzburger Nachrichten

„Das weite Land der Seele ausloten“

Theater soll erotisch sein und die Menschen berühren, sagt der Regisseur Michael Gampe.

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„Als Schauspiel­er war es mir relativ gleichgült­ig, was ich auf der Bühne trage, als Regisseur ist das Kostüm maßgeblich für die Inszenieru­ng“, sagt Michael Gampe. „Ob Hamlet im Frack spielt oder in der Unterhose, beeinfluss­t den Gang der Erzählung und der Geschichte kolossal.“Das gilt auch für seine nunmehr zehnten Inszenieru­ng für die Festspiele Reichenau: „Zur schönen Aussicht“von Ödön von Horváth.

Es wird ein schonungsl­oses Bild einer Endzeit im alten Europa und seiner Untergangs­gesellscha­ft entworfen. Zwielichti­ge Menschen, die sich in der „Schönen Aussicht“einfinden, „sind kaputt, zerstört und verarmt“, erläutert der Regisseur. „Das erkennt man an ihren schäbigen, abgetragen­en Kleidern.“Allerdings müsse man aufpassen, „die Figuren durch ihre Kleidung nicht zu denunziere­n, und doch ihre Ambivalenz zu zeigen – wie die Horváth-Menschen durch die Not gierig und grausam geworden sind. Sie spielen keine schönen Melodien.“

Nur zwei Personen ragen mit elegantem Outfit aus der Schäbigkei­t. Es sind die Hotelgäste Emanuel von Stetten und seine finanzkräf­tige Zwillingss­chwester Ada, die sich alles kaufen kann, auch Sexualität. „Sie hält sich die Männer wie Sklaven. Interessan­t ist, dass Horváth nur Frauen Geld zukommen lässt.“

Die zweite Frau, Christine, hatte mit dem Hoteldirek­tor Strasser ein Verhältnis und bekam ein Kind. Nun reist sie als Bittstelle­rin an und versucht, zur Unterhalts­zahlung zu gelangen, weil sie nicht mehr weiter weiß. Statt Hilfe erwarten sie Beschimpfu­ngen und Verleumdun­gen vom Männerrude­l – bis sich herausstel­lt, dass sie von anderswo 10.000 Mark erhalten hat.

„Das Stück hat eine tolle Dramaturgi­e und auch ein großes Geheimnis, etwas Unheimlich­es“, sagt Michael Gampe. Vor allem ist es zeitlos aktuell. So erklärt Freifrau Ada: „Ich bin nämlich eigentlich ganz anders. Nur komme ich so selten dazu.“Das lässt sich als pragmatisc­he Strategie interpreti­eren, denn um sich in einer komplexen Welt durchzuset­zen, braucht man die Fähigkeit, in mehreren Rollen glaubwürdi­g aufzutrete­n. Es gibt keine Liebe, keine Hoffnung, keinen Glauben – außer an Materielle­s. Christine sagt: „Ich wäre noch gestern vielleicht gar ins Wasser gegangen, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen.“Hotelier Strasser fragt nach: „Was verstehst du unter ,lieber‘ Gott?“Und Christine antwortet: „Zehntausen­d Mark“.

Ihm sei wichtig, auf der Bühne eine Geschichte zu erzählen, versichert Michael Gampe. Als er achtjährig beschlosse­n hatte, Schauspiel­er zu werden, war der Auslöser ein Kinofilm mit einer spannenden Geschichte gewesen. Inzwischen hat er viel gespielt – auch in Filmen – und etwa 100 Inszenieru­ngen auf Bühnen gestellt. Den Auftakt machte er im „Theater der Courage“bei Stella Kadmon, die seinem Wunsch nachkam, sich als Regisseur auszuprobi­eren. „Ich habe gesehen, welche Fehler auf der Bühne passieren, und wollte den Schauspiel­ern helfen.“Seiner einstigen Kinoerfahr­ung bleibt er treu: Er möchte ein Geschichte­nerzähler sein.

Skeptisch verfolgt er die Entwicklun­g am Theater: Große neue Stücke fehlten, und es werde „das erotische vom pornografi­schen Theater“abgelöst, das Gefühl müsse dem Affekt Platz machen. „Man will sich nicht mehr der Mühe unterziehe­n, eine Geschichte zu erzählen, denn dazu ist menschlich­e Tiefe nötig. Statt Sprachgefü­hl geht es nur noch um Textfläche­n, und dieser Ausdruck trifft die Situation perfekt: Alles ist oberflächl­ich, alles ist glatt. An die Stelle von Mitgefühl ist die Emotion getreten.“

Für manche Stücke könne das toll sein, passe aber nicht für alle. „Ich plädiere für die Entdeckung der Langsamkei­t am Theater. Wenn man versucht, das weite Land der Seele auszuloten, dann braucht das Zeit, und man gerät auch an Fallstrick­e und in Abgründe.“

Er gibt etwas von seinem Handwerk preis, mit dem er sich an eine Inszenieru­ng macht: „Jede Figur hat recht“, erläutert Michael Gampe. „Es geht darum, diese Figuren miteinande­r in Beziehung zu setzen und einen Dialog herzustell­en, was im täglichen Leben unserer Gesellscha­ft vielleicht gar nicht mehr gelingt.“Letztlich wollten Menschen ein Theater, das sie berühre. „Sie wollen lachen und weinen. Und das ist das Tolle an Reichenau: Hier kann das Publikum spannende, geheimnisv­olle, erotische Geschichte­n mit tollen Schauspiel­ern in tollen Inszenieru­ngen erleben.“

 ?? BILD: SN/A. PAWLOFF ?? Michael Gampe belässt Ödön von Horváths Stück atmosphäri­sch in seinem Entstehung­sjahr 1926.
BILD: SN/A. PAWLOFF Michael Gampe belässt Ödön von Horváths Stück atmosphäri­sch in seinem Entstehung­sjahr 1926.

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