Vorsicht mit Grenzen!
Grenzen sind verletzlich – bei Ländern wie beim Verstehen oder beim Denken.
Warum sind uns Grenzen so wichtig, warum schaffen wir sie, sichern wir sie, öffnen wir sie, schließen wir sie wieder? In seinem neuen Roman „Das Mädchen an der Grenze“fragt der niederösterreichische Schriftsteller Thomas Sautner sich und uns, warum wir Welt und Existenz so oft in hüben und drüben, diesseits und jenseits, richtig und falsch einteilen. Dank des symbolträchtigen Schauplatzes und der einfühlsamen, poetischen Erzählweise erhalten wir problemlos Zutritt in die Welt des Romans. Doch schon bald entpuppt er sich als literarisches Experiment, das uns an die Grenzen des Verstehens führt.
Wie in vielen seiner bisherigen Bücher – erfolgreich waren das 2006 veröffentlichte Debüt „Fuchserde“und der 2015 erschienene Roman „Die Älteste“– geht es zunächst in die Heimat des Autors, der 1970 in der geteilten Stadt Gmünd geboren wurde. Noch unmittelbarer erlebt seine Icherzählerin Malina, die Ende der 1980er-Jahre in einem Zollhaus aufwächst, die österreichisch-tschechoslowakische Grenze. Für sie und die anderen Kinder der Zollwachebeamten gilt: „Alles dürft ihr machen, nur geht ja nicht über die Grenze!“
Die Rolle der Grenzhüter beanspruchen Eltern ja generell für sich. Dass sie darin nicht überzeugen, wenn sie selbst dauernd Grenzen überschreiten, fließt subtil in Malinas Beobachtungen ein. So kontrolliert der Vater bei seinen Patrouillen statt der Grenze vielmehr seinen Kollegen Kolja, der Malinas Mutter allzu nah gekommen ist.
Wegen dieser Grenzverletzungen können die Eltern nicht akzeptieren, dass ihre empfindsame Tochter Dinge sieht, die andere nicht sehen, während das, was alle anderen sehen, um sie herum „zerwackelt“. Mit dem Tag, an dem Malina die Grenze zur Tschechoslowakei überschreitet, überwindet sie die Begrenztheit der eigenen Existenz. Gedanken und Gefühle anderer dringen in sie ein, Ort und Zeit verlieren ihre Gültigkeit, ja selbst Leben und Tod verschwimmen.
Nicht nur innerhalb des Buchs fallen die Grenzen. Mit Malina, die quasi als Medium fungiert, werden wir hinuntergezogen in den Strudel, der sie zu verschlingen droht. Oder ist der Fall aus dem Bekannten im Gegenteil ein Aufstieg zu neuer Erkenntnis und einer neuen Form von Existenz? Einfach zu erlangen ist weder das eine noch das andere, denn die Welten, in die Malina geschleudert wird, sind bevölkert von Philosophen und Gestalten aus der antiken Mythologie. Hand hoch, wer weiß (oder nachliest), dass Zenon von Elea ein antiker griechischer Philosoph war, dessen Paradoxien um die Frage kreisen, ob die Welt in Einheiten zerlegbar ist oder tatsächlich eine kontinuierliche Einheit bildet! Und steckt in dem alten Hund Berkely vielleicht der Philosoph George Berkely, für den die Existenz der äußeren Dinge allein darin bestand, dass sie wahrgenommen werden? Jedenfalls droht sich nicht nur Malina, sondern auch der Roman selbst in all den Begegnungen und gleichnishaften Szenen zu verlieren. Warum also diese schier unbegrenzte Fülle der Bezüge?
Sei es der Name des Mädchens, das sicherlich nicht zufällig nach jenem Roman von Ingeborg Bachmann benannt ist, in dem die sensible Icherzählerin immer wieder aus der vermeintlichen in eine andere Realität abgleitet; sei es der vorangestellte Traum, der vom Überschreiten der Grenze zwischen Buch und Leser handelt: Vieles deutet darauf hin, dass die Protagonistin selbst als Roman verstanden werden kann, spielt sie doch eine vergleichbare Rolle. Schließlich ermöglichen es uns ausgerechnet Romane, jene fiktiven Geschichten, die oft abfällig als „erfunden“bezeichnet werden, mit ihrer Offenheit immer wieder aufs Neue, beim Abenteuer des Lesens die Begrenztheit der eigenen Existenz zu überwinden. Weil sie nie behaupten würden, richtigzuliegen, könnten sie auch niemals irren und uns deshalb am ehesten unserer Identität versichern, erkennt Malina in schöner Logik: „Wir begegnen einander und sie erzählen, obgleich sie doch von anderen handeln, stets von mir.“