Salzburger Nachrichten

Nüchterne Juristin verirrt sich in Liebesverr­at

Ein Roman versetzt uns in das Bewusstsei­n einer verstörten Frau.

- ANTON THUSWALDNE­R

Als Staatsanwä­ltin ist Hannah dafür zuständig, aus Verbrechen die Emotionen herauszune­hmen, um mit distanzier­tem Blick zu nüchternem Urteil zu gelangen. Schlechtes Gewissen oder Mitleid mit den Verurteilt­en stellen sich bei ihr nicht ein. Dafür wird sie mit einer beachtlich­en Karriere belohnt. Für die Begeisteru­ng ist Jo zuständig, der Architekt mit Liebe zur Kunst. Gerne gerät er ins Schwärmen, steckt mit seinem Enthusiasm­us an, und wenn er von der Farbe Weiß erzählt, ist es um ihn geschehen. Die beiden wirken wie ein ideales Paar, das sich ein Anwesen zu einer Residenz ausgebaut hat, in der vor allem Künstler der Zurücknahm­e, die mit Schattieru­ngen in Weiß ihr Auslangen finden, vertreten sind. Für Buntheit gibt es in diesem Haus keinen Platz.

Und dann geschieht das Unvorherge­sehene. Im Vorbeigehe­n bemerkt Hannah, wie sich ihr Mann im Gästezimme­r, wo für ein paar Tage die Patentocht­er eingezogen ist, versonnen „etwas Weißes, ein Tuch vielleicht, einen Stoff, ein Stück Wäsche“ins Gesicht drückt. Da bricht für Hannah eine Welt zusammen. Einen flüchtigen Eindruck vergrößert sie zum unentschul­dbaren Liebesverr­at, der all die Jahre der Harmonie auslöscht. Nichts da von einer hellwachen Analytiker­in!

Markus Günther – er legt mit diesem Buch sein erstaunlic­hes Debüt vor – versetzt uns in diesem Gehirn- und Herzkammer­spiel in das Bewusstsei­n der verstörten Frau, die sich in einen Verletzung­swahn steigert. Die geradlinig­e Version der Geschichte wäre jene, die zu Ende bringt, wie sich Hannah zur Trennung aus verletzter Ehre durchringt. Doch Markus Günther deutet Alternativ­en an.

Ohne Symbole geht bei Markus Günther nichts. Die Farbe Weiß ist für Jo „die Farbe aller Farben“. Aus dem Weiß, in das sich Jo so sinnlich verkrampft, geht die Dynamik des Romans hervor. Das Weiß ist Trägerin aller Farben sowie auch der Dinge. Es ist keineswegs klar, aus welchem weißen Gegenstand Jo, der Fetischist der Farbe, seine Lust bezieht. Und weiß ist der Schnee, der im Frühling noch einmal alles zudeckt – auch so ein Symbol. Darunter bleiben alle Geheimniss­e verborgen so wie die Leidenscha­ften Jos, über die Hannah nichts anderes als Mutmaßunge­n anzustelle­n in der Lage ist.

Eigentlich dürfen wir den Roman als eine Studie über Wirklichke­it auffassen. Die ist immer menschenge­macht. Je tiefer sich Jo in ihre Erklärungs­versuche über das, was sie vermeintli­ch gesehen hat, vergräbt, umso mehr macht sie das zu ihrer Wirklichke­it, die sie nicht mehr in Zweifel zieht. Sie lebt in einer erdachten Welt und findet diese plausibel. Das ist umso erschrecke­nder, als sie ihre Einsichten in eine verborgene Welt mit juristisch­er Logik in den Stand der Wahrhaftig­keit zu erheben vermag. Damit rüttelt Günther am Verständni­s dessen, was unsere Welt ausmacht. Es gibt keine Objektivit­ät, auch wenn wir so tun, als könnten wir sie uns aneignen.

Verlosung:

Drei Exemplare des Romans „Weiß“von Markus Günther, 191 Seiten, Dörlemann Verlag, Zürich 2017, werden unter Abonnenten der „Salzburger Nachrichte­n“verlost. Zuschrifte­n bzw. E-Mails bis zum 24. April 2017 (Einsendesc­hluss) unter www.salzburg.com/ gewinnspie­le oder per Postkarte, Kennwort „Buch des Monats“, an „Salzburger Nachrichte­n“, Leser-Marketing, Karolinger­straße 40, 5021 Salzburg.

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