Nüchterne Juristin verirrt sich in Liebesverrat
Ein Roman versetzt uns in das Bewusstsein einer verstörten Frau.
Als Staatsanwältin ist Hannah dafür zuständig, aus Verbrechen die Emotionen herauszunehmen, um mit distanziertem Blick zu nüchternem Urteil zu gelangen. Schlechtes Gewissen oder Mitleid mit den Verurteilten stellen sich bei ihr nicht ein. Dafür wird sie mit einer beachtlichen Karriere belohnt. Für die Begeisterung ist Jo zuständig, der Architekt mit Liebe zur Kunst. Gerne gerät er ins Schwärmen, steckt mit seinem Enthusiasmus an, und wenn er von der Farbe Weiß erzählt, ist es um ihn geschehen. Die beiden wirken wie ein ideales Paar, das sich ein Anwesen zu einer Residenz ausgebaut hat, in der vor allem Künstler der Zurücknahme, die mit Schattierungen in Weiß ihr Auslangen finden, vertreten sind. Für Buntheit gibt es in diesem Haus keinen Platz.
Und dann geschieht das Unvorhergesehene. Im Vorbeigehen bemerkt Hannah, wie sich ihr Mann im Gästezimmer, wo für ein paar Tage die Patentochter eingezogen ist, versonnen „etwas Weißes, ein Tuch vielleicht, einen Stoff, ein Stück Wäsche“ins Gesicht drückt. Da bricht für Hannah eine Welt zusammen. Einen flüchtigen Eindruck vergrößert sie zum unentschuldbaren Liebesverrat, der all die Jahre der Harmonie auslöscht. Nichts da von einer hellwachen Analytikerin!
Markus Günther – er legt mit diesem Buch sein erstaunliches Debüt vor – versetzt uns in diesem Gehirn- und Herzkammerspiel in das Bewusstsein der verstörten Frau, die sich in einen Verletzungswahn steigert. Die geradlinige Version der Geschichte wäre jene, die zu Ende bringt, wie sich Hannah zur Trennung aus verletzter Ehre durchringt. Doch Markus Günther deutet Alternativen an.
Ohne Symbole geht bei Markus Günther nichts. Die Farbe Weiß ist für Jo „die Farbe aller Farben“. Aus dem Weiß, in das sich Jo so sinnlich verkrampft, geht die Dynamik des Romans hervor. Das Weiß ist Trägerin aller Farben sowie auch der Dinge. Es ist keineswegs klar, aus welchem weißen Gegenstand Jo, der Fetischist der Farbe, seine Lust bezieht. Und weiß ist der Schnee, der im Frühling noch einmal alles zudeckt – auch so ein Symbol. Darunter bleiben alle Geheimnisse verborgen so wie die Leidenschaften Jos, über die Hannah nichts anderes als Mutmaßungen anzustellen in der Lage ist.
Eigentlich dürfen wir den Roman als eine Studie über Wirklichkeit auffassen. Die ist immer menschengemacht. Je tiefer sich Jo in ihre Erklärungsversuche über das, was sie vermeintlich gesehen hat, vergräbt, umso mehr macht sie das zu ihrer Wirklichkeit, die sie nicht mehr in Zweifel zieht. Sie lebt in einer erdachten Welt und findet diese plausibel. Das ist umso erschreckender, als sie ihre Einsichten in eine verborgene Welt mit juristischer Logik in den Stand der Wahrhaftigkeit zu erheben vermag. Damit rüttelt Günther am Verständnis dessen, was unsere Welt ausmacht. Es gibt keine Objektivität, auch wenn wir so tun, als könnten wir sie uns aneignen.
Verlosung:
Drei Exemplare des Romans „Weiß“von Markus Günther, 191 Seiten, Dörlemann Verlag, Zürich 2017, werden unter Abonnenten der „Salzburger Nachrichten“verlost. Zuschriften bzw. E-Mails bis zum 24. April 2017 (Einsendeschluss) unter www.salzburg.com/ gewinnspiele oder per Postkarte, Kennwort „Buch des Monats“, an „Salzburger Nachrichten“, Leser-Marketing, Karolingerstraße 40, 5021 Salzburg.