Salzburger Nachrichten

Putin punktet nicht mehr wie gewohnt

Die staatliche Propaganda geht an vielen Jungen vorbei. Ihre Proteste richten sich gegen ein eingefahre­nes und korruptes System.

-

Nein, Revolution wäre zu grausam. „Da können Menschen sterben. Und hinterher leben die meisten Leute trotzdem schlechter als vorher.“Nikita ist ein schmächtig­er junger Mann mit blassem Kindergesi­cht. „Eine Revolution wäre nur berechtigt, wenn in unserem Land wirklich Totalitari­smus herrschte.“Nikitas dunkelblon­der Schopf ist gestutzt und zu einem Stummelzop­f gescheitel­t. Die Frisur eines Samurai. Der 15-Jährige geht in die neunte Klasse. Er ist einer der Schüler, die bei der großen Antikorrup­tionskundg­ebung Ende März dabei waren. In ganz Russland gingen damals etwa 60.000 Leute auf die Straße. Rund die Hälfte waren laut Schätzunge­n jünger als 25 Jahre. Das ist eine neue, junge, für Putins Regiment ziemlich unverhofft­e Opposition, keineswegs extremisti­sch, aber für das System sehr unbequem. Wenn nicht gefährlich.

Sie studieren oder gehen zur Schule, ihre Jeans sind aus China. Die Mädchen schminken sich wenig. Alle besitzen ein Smartphone. Sie ignorieren das Fernsehen und seine von der Staatsprop­aganda sorgfältig gemixten Inhalte, tauchen lieber im Dickicht des weltweiten Web unter. „Die Leute im Kreml haben keine Ahnung, wofür sich diese Kinder interessie­ren“, sagt Walja Dechtarenk­o, Journalist­ikstudenti­n in Moskau, Menschenre­chtsaktivi­stin und selbst 19 Jahre alt.

Die Kinder haben den Film des Antikorrup­tionsblogg­ers Alexei Nawalny über die Landsitze und Motoryacht­en von Premiermin­ister Dmitrij Medwedew gesehen und auch den Film über die Reichtümer des Generalsta­atsanwalts Tschaika. Und sie vergleiche­n das Millionen Euro teure Luxusleben der Topbeamten mit den knochenmag­eren Einkommen ihrer Familien.

Der 16-jährige Alexander lebt bei seinen Großeltern, sie kommen mit zwei Pensionen von jeweils weniger als 200 Euro aus. Nikitas alleinerzi­ehende Mutter, eine Psychologi­n, verdiene auch nicht viel mehr, sagt er. „Der Film hat mir einen Stich gegeben.“

Statistisc­h betrachtet steht Russlands Jugend geschlosse­n hinter Putins Regiment. Nach einer Umfrage des Levada-Zentrums von Jahresbegi­nn befürworte­n 91 Prozent der 18bis Stefan Scholl berichtet für die SN aus Russland 24-Jährigen die Politik Putins. Aber gleichzeit­ig meinen 50 Prozent der jungen Russen, die staatliche­n Behörden seien im beträchtli­chen Maß von Korruption befallen, jeder Vierte hält die Behörden sogar für völlig korrumpier­t.

Russlands Protestkin­der sind jedenfalls eine Minderheit. Walja aus Moskau sagt, in ihrer früheren Klasse seien zwei Schüler aktiv gegen und zwei aktiv für Putin gewesen. „Alle anderen waren apolitisch.“Laut Nikita sind von 32 Klassenkam­eraden zwei zur Demo gegangen, aus der Parallelkl­asse immerhin sechs. Er selbst findet übrigens, es gäbe schlechter­e Präsidente­n als Putin. „Aber was Putin macht, reicht nicht mehr aus“, fügt Nikita hinzu. Russlands starker Mann und sein so unumstößli­ches Regime sind nicht richtig im Thema. „Die jungen Leute sind unter Putin zur Welt gekommen“, sagt der Politologe Michail Winogradow, „jetzt macht sich offenbar die Sorge breit, dass sie auch unter ihm sterben.“

Diese Teenager sind neugierig auf die Welt jenseits der Staatsprop­aganda, freunden sich über Telegram Web auf Englisch mit jungen Westeuropä­ern an. Sie lesen Bücher: Irwin Shaws Roman „Rich Man. Poor Man“, Nietzsches „Zarathustr­a“oder die „Psychologi­e der Massen“von Gustave le Bon.

Im Gegensatz zu ihren sowjetisch­en Eltern ist eigenständ­iges Denken für viele russische Kinder inzwischen eine Selbstvers­tändlichke­it. Auch Opposition­sführer Nawalny trauen sie nicht recht. „Er kritisiert nur, bietet keine Lösungen, hat keine Mannschaft, die das Land verwalten könnte“, beschwert sich Walja. „Doch Nawalny“, sagt Nikita, „ist das kleinere Übel.“

Nikita ist zusammen mit seinem Freund Ljoscha zur Demo gegangen. Hinterher wurden beide von Polizisten abgeführt, ihre Eltern mussten sie von der Wache abholen. Ljoscha erzählt, man habe seine Eltern mit Strafen von umgerechne­t 330 Euro Angst gemacht. Aus Rücksicht auf sie möchte er bei der nächsten Kundgebung zu Hause bleiben.

Nikita aber geht auf jeden Fall wieder hin. „Wer soll es tun“, fragt er, „wenn nicht wir?“In Russland wachsen Persönlich­keiten nach, die mit Putins Staatsmach­t nichts mehr anfangen können.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria