Italien debattiert über die Retter
24.000 Flüchtlinge erreichten im ersten Quartal 2017 von Libyen aus die rettende EU-Küste.
ROM. Bis zu tausend Menschen kann die „Prudence“, ein 75 Meter langes Handelsschiff, zur Not aufnehmen. Als sie dieser Tage im Hafen von Catania ankam, waren außer den Mitarbeitern von Ärzte ohne Grenzen nur sechs Leichen an Bord, die von fünf jungen Frauen und die eines Mannes. Sie waren rund 40 Seemeilen vor der libyschen Küste aus dem Meer geborgen worden. 1090 Ertrunkene wurden 2017 bislang gezählt. 2016 waren es mehr als 5000. Ärzte ohne Grenzen wünschte sich eine Pause bei den heftigen Polemiken, die gegen die Rettungsaktionen mancher NGOs erhoben werden. Gibt es Kontakte zu den Schleppern, die ihre Menschenfracht auf oft hinfälligen Booten aussetzen, bevor die derzeit acht Schiffe der NGOs die Verzweifelten retten? Verlassen Schiffe der Hilfsorganisationen die internationalen Gewässer, begeben sie sich in die libyschen Hoheitsgewässer und erleichtern so den Schleppern das Geschäft? Und schließlich: Wie finanzieren die privaten Organisationen ihre teuren Rettungsaktionen?
Belastbare Beweise gibt es nicht. Wohl aber Indizien, aufgeschnappte, schwer identifizierbare Funksprüche, angebliche Geheimdienstberichte. Gerüchte blühen. Inzwischen bemühen sich italienische Parlamentsausschüsse und drei sizilianische Staatsanwaltschaften, Licht ins Dunkel zu bringen.
Aus Frontex-Angaben geht inzwischen hervor, dass bei 90 Prozent ihrer Einsätze zur Flüchtlingsrettung die NGOs direkt die Flüchtlingsschiffe lokalisiert haben. In Libyen aktive Schlepper würden direkt die NGO-Schiffe rufen, die sich am nächsten zu Libyens Gewässern befinden würden, hieß es in dem Bericht der EU-Grenzschutzbehörde, der von der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“zitiert wurde.
Populistische Gruppierungen heizen derweil die Stimmung weiter an. Luigi Di Maio von der Protestbewegung Fünf Sterne wirft den NGOs „Taxi-Dienste“vor. Matteo Salvini, Chef der rechtsextremen Lega Nord, sieht Bestrebungen, durch organisierte Zuwanderung italienische Arbeitskräfte zu ersetzen. Unter den Staatsanwälten hat sich Carmelo Zuccaro aus Catania am weitesten vorgewagt und seine Vorwürfe gegen Hilfsorganisationen in Interviews und bei einer Parlamentsanhörung wiederholt. Er stützt sich auf Aussagen von Migranten und Telefonmitschnitte, räumt aber ein: „Wir haben noch keine eindeutigen Beweise.“Zuccaro vermutet auch Verbindungen zwischen Menschenhändlern und der libyschen Küstenwache. Francesco Paolo Giordano, Staatsanwalt im sizilianischen Syrakus, dagegen stellt fest: „Uns liegt nichts vor.“
Die Hilfsorganisationen weisen alle Vorwürfe empört zurück und fürchten, dass nun ihre Spendeneinnahmen sinken könnten. Die deutsche Gruppe Sea Eye, die seit April 2016 mit ihrem gleichnamigen Schiff 7499 Menschen gerettet hat, speist sich nach ihren eigenen Angaben ausschließlich aus den Spenden von etwa 1500 Menschen. Es gebe keinerlei Kontakte zu Schleusern.
„Es ist eine Tatsache, dass die NGOs im Mittelmeer einen humanitären Korridor aufgebaut haben. Das kann vielleicht vom humanitären Standpunkt verständlich sein, dieser Korridor ist jedoch nicht genehmigt worden“, meinte ForzaItalia-Abgeordnete Laura Ravetto.
Laut UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erreichten im ersten Quartal 2017 mehr als 24.000 Flüchtlinge von Libyen aus Italien. Im gleichen Vorjahreszeitraum waren es 18.000 Menschen.