Die Schönheit lässt sich feiern
Die 70. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes lockt an die Côte d’Azur. Michael Haneke reist mit einem „Happy End“an.
Nicole Kidman ist die Königin von Cannes, Michael Haneke der König, und damit sind schon zwei wesentliche Protagonisten benannt, die die 70. Ausgabe des Festivals ab heute, Mittwoch, bestimmen: Mit „Happy End“tritt der österreichische Regisseur am Montag zum siebten Mal im Wettbewerb um die Goldene Palme an, zwei Mal hat er bereits gewonnen. Sein neuer Film handelt von einer Familie vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise, mit Isabelle Huppert und Jean-Louis Trintignant.
Und Kidman spielt in drei der am heißesten erwarteten Filme des Festivals: In der Neil-Gaiman-Verfilmung „How to Talk to Girls at Parties“, die in der Nebenschiene „Un Certain Regard“läuft, nimmt sie als Punk-Ikone ein junges Alien (Elle Fanning) unter ihre Fittiche. Und im Wettbewerb ist sie zwei Mal vertreten, in Yorgos Lanthimos’ Euripides-inspiriertem Familiendrama „The Killing of a Sacred Deer“und in Sofia Coppolas Literaturverfilmung „The Beguiled“, die im Amerikanischen Bürgerkrieg spielt.
Neunzehn Bewerber gibt es heuer um die Goldene Palme, darunter „Wonderstruck“von Todd Haynes (vor zwei Jahren mit „Carol“erfolgreich), neue Filme von Lynne Ramsay, Fatih Akin, Hong Sang-Soo und Naomi Kawase, Jacques Doillon und Sergey Loznitsa, außerdem Noah Baumbachs „The Meyerowitz Stories“mit Dustin Hoffman und Adam Sandler und Bong Joon-Hos „Okja“mit Tilda Swinton, in dem ein Mädchen ein riesiges Ungetüm vor einem globalen Konzern zu schützen versucht.
Die beiden letztgenannten Filme haben ein spezielles Problem aufgeworfen: Immer öfter bekommen AFestivals Einreichungen, die von Streamingplattformen produziert werden. Für „Okja“und „The Meyerowitz Stories“hat Produzent Netflix erst gar keinen Kinostart in Frankreich geplant, was zu wütenden Protesten der französischen Filmindustrie und nun zu einem neuen Regulativ geführt hat: Ab 2018 müssen Filme, die im Wettbewerb laufen, auch einen Kinostart zusichern. „Das Festival freut sich über Netflix als neuen Akteur, der sich entschieden hat, in Kino zu investieren, aber es will seine Unterstützung für den traditionellen Modus des Ausstellens von Kino betonen“, hieß es gestelzt in der Erklärung des Festivals.
Zugleich demonstriert Cannes seine Offenheit für Fernseh- und Streamingformate in vielen Spezialvorführungen: Die Fortsetzung von David Lynchs Kultserie „Twin Peaks“(produziert von Sky) feiert hier ihre Premiere, ebenso die zweite Staffel der australischen Serie „Top of the Lake“von Jane Campion. Das Filmfestival kann es sich gar nicht leisten, auf Kino als einziger Vorführform zu beharren, wenn es Publikum und auch Filmschaffende halten will. Die neue Regelung ist eine hastige Lösung für ein vorhersehbares Problem. Doch eine Festivalprogrammierung bedeutet immer heikles Abwägen und ist vielfach von Entscheidungen im letzten Moment geprägt, wie der künstlerische Leiter Thierry Frémaux in seinem vor wenigen Wochen erschienenen Buch „Sélection officielle“erläutert.
Darin beschreibt er selbstkritisch das Jahr, das zum Festival 2016 führte, insbesondere die Zeit unmittelbar vor Festlegung des Wettbewerbs. Tatsächlich sichtet Frémaux noch bis zum Tag vor der Programmpräsentation neue Einreichungen, die erst im letzten Moment fertig geworden sind.
Und so sind auch manche Entscheidungen besser zu verstehen: lieber der Film eines Regisseurs, dessen Reputation eine gewisse Aufmerksamkeit verspricht, als das womöglich geniale Werk einer Newcomerin – auch wenn das Programm auf diese Weise Gefahr läuft, behäbig zu sein.
Eine nachhaltige Aktualisierung hat das Festival bisher verschlafen, immer wieder gibt es nur oberflächliche Nachbesserungen auf Kritik hin. Das ist bei der erwähnten „Lex Netflix“ebenso wie beim beschämend langsam wachsenden Anteil von Regisseurinnen im Wettbewerb – heuer nur drei von 19 Filmen.
Der kleine Eklat um das Festivalposter, der die französische Presse Ende März verärgert hatte, passt da wie die sprichwörtliche Faust aufs Objektiv: Auf einem Foto von 1959 tanzt da eine berückend schöne Claudia Cardinale auf blutrotem Hintergrund, ihr Rock fliegt hoch – doch im Vergleich zum Originalbild sind auf dem Plakatmotiv ihre Hüften und Beine schmaler. Die Filmikone Cardinale wurde retuschiert, um zu gefallen. Modernisierung funktioniert anders.
„Cannes freut sich auch über Netflix als neuen Akteur.“Thierry Frémaux, Festival-Direktor