„Es ist unerträglich!“
Vanessa Redgraves Regiedebüt ist ein Appell, die Verletzlichsten nicht zu vergessen.
Ihr Leben lang war Vanessa Redgrave politisch engagiert, als UNICEF-Botschafterin ebenso wie in ihrer Schauspielarbeit. Beim Filmfest in Cannes hat die britische Film- und Theaterikone mit 80 Jahren ihr Regiedebüt vorgestellt: „Sea Sorrow“, betitelt nach einem Zitat aus Shakespeares „Der Sturm“, ist ein Filmessay über die Flüchtlingskrise, speziell über die Lage minderjähriger Flüchtlinge, und darüber, wie Redgraves eigene Biografie geprägt ist von ihrer Kindheitserinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Mitgewirkt haben auch Emma Thompson und Ralph Fiennes. SN: Was war der Anlass, so spät in Ihrer Karriere noch mit Regie zu beginnen? Ich bin entsetzt angesichts der schieren Zahlen jener, deren Leben komplett ausgelöscht werden. In Kriegen, auf der Flucht, in Wüsten, im Mittelmeer. Natürlich habe ich ununterbrochen mit Geld zu helfen versucht und Benefizaufführungen organisiert, aber dann hörten wir vom Ertrinken dieses kleinen Buben, Alan Kurdi, bei der Überquerung dieser wenigen Kilometer zwischen der Türkei und Griechenland. Die Kurdi-Familie war aus Kobane entkommen, einer Stadt, die zwei Mal belagert war und jetzt übrigens wieder belagert ist. Es ist unerträglich und inakzeptabel, dass wir Flüchtlingen keine sichere und legale Überfahrt erlauben. Und da hab ich mich entschlossen, diesen Film zu drehen. SN: Das Bild, das in vielen britischen Medien von Flüchtlingen gezeichnet wird, ist berüchtigt grausam. Soll dieser Film dem etwas entgegensetzen? Unbedingt. Am negativen Image von Flüchtlingen haben unsere Medien einen schändlichen Anteil, vor allem rund um das Brexit-Referendum wurde es wirklich hässlich. Als letzten Herbst endlich eine Gruppe minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge einreisen durfte, haben die in den Augen mancher Leute älter als 18 ausgesehen, und die Medien haben sich darauf gestürzt, in dieser abstoßenden faschistischen Rhetorik. Dabei ist es logisch, dass gerade die jungen Burschen flüchten: Die Milizen, ob der IS oder andere, zwingen sie, im bewaffneten Kampf mitzumachen. Wer nicht selbst töten will, kann nur fliehen. SN: Sie haben das Referendum erwähnt. Bereitet Ihnen der Brexit Sorgen? Ich will jetzt keine Reden halten, aber die Auswirkungen des Brexit werden sein, als würde ein Tsunami über Großbritannien hereinbrechen. Die meisten haben keine Ahnung, was alles betroffen sein wird, weil niemand es ihnen gesagt hat, sie wurden aktiv belogen. Schlimm für unsere Sache ist zusätzlich, dass der Fokus von den Flüchtlingen weg ist, aber das Leiden und Sterben geht immer weiter. Wenn das Leben in Großbritannien für alle schlimmer wird, wird es immer schwieriger, dass die Leute sich noch anständig irgendwem anderen gegenüber verhalten. SN: Dieser Film ist produziert von Ihrem Sohn, Ihre Tochter Joely Richardson kommt im Film vor. Ihr Mann Franco Nero unterstützt ein Flüchtlingsprojekt in Italien. Wie sehr ist das Familienthema? Ich habe mein Leben lang Menschen gekannt, die anderen geholfen haben. Meine Eltern waren mit Künstlern befreundet, die im Zweiten Weltkrieg nach England geflohen waren, und wir kannten deren Geschichten. Und meine Eltern wurden gebeten, Geld aufzutreiben, um jüdischen Flüchtlingen in London das Überleben zu ermöglichen, und sie schrieben Briefe an das Innenministerium, um Visa zu erbitten, unter anderem für Oskar Kokoschka – also ja, dieses Anliegen verbindet unsere Familie.
„Der Brexit wird sein, als würde ein Tsunami hereinbrechen.“Vanessa Redgrave, Regisseurin
SN: Sie erzählen im Film von Ihren Kindheitserinnerungen an Krieg und Flucht aus dem bombardierten London und ziehen die Parallele zu den Erfahrungen von Flüchtlingskindern heute. Mein Sohn hat mich dringend gebeten, im Film meine eigene Geschichte zu erzählen. Ich wollte ja keinen Film über mich machen, sondern einen über Flüchtlinge, aber er hat mir dargelegt, dass das den Menschen helfen kann zu verstehen, was es bedeutet, Flüchtling zu sein, wenn sie von meiner Geschichte hören. Als ich viereinhalb war, mussten wir uns in Londoner Kellern verstecken, bevor wir vor den fallenden Bomben evakuiert wurden in den Norden Englands. Solche Erfahrungen prägen.