Wunderwerk am Fluss
Schlösser im Tal der Loire. Landschaft, Architektur und Lebenskunst wecken die Sehnsucht, lange zu bleiben.
Der Küchenchef verzieht keine Miene. Routiniert legt er die vorgeformten Buletten auf die heiße Platte. Vergebens hat er die frisch gekochten Frühlingsgemüse aus dem hauseigenen Garten empfohlen, das Rindfleisch aus der Region, den Fisch. Wer als Franzose an der gastronomischen Touristenfront arbeitet, braucht starke Nerven, die bekanntlich in einem fein genährten Magen ruhen. Doch die Amerikaner wollen partout Hamburger. Den Eistee dazu haben sie sich schon aus der Getränkebox geholt. Monsieur wendet sich lächelnd dem nächsten Gast zu und schöpft den dickflüssigen und nach Karotten duftenden „Potage à la maison“, die Suppe, in einen Topf: „Croûtons gefällig?“Monsieur ist einer in einer Kette von Menschen, denen das Schloss Chenonceau seine Ausstrahlung verdankt.
Es gibt an der Loire prächtigere unter den 400 großteils im Stil der französischen Renaissance errichteten herrschaftlichen Bauten. Aufsehen erregende wie Chambord, jenes architektonische Wunderwerk, von oben betrachtet ein Spiel mit Symbolik und Geometrie in Form eines griechischen Kreuzes, das im Zentrum in der berühmten doppelläufigen Prunktreppe ruht. Leonardo da Vinci soll die Idee dafür gehabt haben. Franz I. hatte den genialen Künstler und Ingenieur von Italien nach Frankreich geholt. Leonardo tat 1519 seinen letzten Atemzug, als der Bau von Chambord begann. Der König ließ dieses Meisterwerk aus weichem Kalktuff wie einen weißen, matt polierten Edelstein in ein grünes Herz aus Wäldern, Wiesen, Sümpfen, Teichen und Seen setzen. Durch das 4300 Hektar große Gebiet mit den Ausmaßen der Stadt Paris schallten einst die Hörner. Der Wald war royales Jagdrevier.
Heute ist er ein aufwendig gehegtes Naturschutzgebiet, durch das die Besucher auf das Schloss zufahren. Der plötzliche Anblick des mit seinen Türmen himmelwärts strebenden Monuments lässt jetzt noch die absolute Macht spüren. Diese wirft ihren Schatten seit Kurzem wieder auf Gärten „à la française“. Generaldirektor des Domaine National de Chambord und Hausherr Jean d’Haussonville rief Historiker, Archäologen und Landschaftsarchitekten zusammen, um die sechs Hektar großen leeren Rasenflächen wie zur Zeit Ludwigs XV. zu möblieren: mit Parterres, Broderien, Blumenbändern, kegelförmig gestutzten Hecken und Zitronenbäumen. Ein amerikanischer Philanthrop und Frankreich-Liebhaber spendete den milden Regen von 3,5 Millionen Euro, damit das Flanieren wieder wie im 18. Jahrhundert ein abwechslungsreiches Vergnügen ist.
Chenonceau will sofort die Annäherung zu Fuß, den Spaziergang durch einen Dom von Platanen, sobald das quirlige Besucherzentrum und die Sicherheitskontrollen passiert sind. Behaglich und anmutig streckt sich das Haus über den Cher, einen Nebenfluss der Loire.
„La vie est un long fleuve tranquille“, das Leben ist ein langer ruhiger Fluss. Die Loire scheint diesem Wunschbild zu entsprechen. Zumindest für denjenigen, der an einem bedächtigen Frühlingstag an ihr entlangfährt, zwischen rosaweiß blühenden Obstbäumen, hellen Häusern und unter den tief hängenden Wattebauschwolken, die der Meereswind landeinwärts schickt. Vor den vier dampfspuckenden Atomkraftwerken in dieser Gegend lassen sich die Augen verschließen. Über mögliche Konsequenzen für den Landstrich, den der Romantiker Alfred de Vigny den „Garten Frankreichs“nannte, mag der flüchtige Besucher nicht nachdenken. Aufsässige Bürger konnten jedenfalls eine fünfte Anlage verhindern.
Über mehr als 1000 Kilometer hinweg gräbt sich der Fluss vom Zentralmassiv aus ein sanft geschwungenes flaches Bett und wälzt sein Wasser dem Atlantik zu. Unterhalb von Nantes ergreifen die Gezeiten von ihm Besitz. Er umspült in seinem Lauf Sandbänke, reißt Inselchen ein und baut neue Minireservate für Fische, Vögel und Pflanzen. „Schwester der Seine“nennt die Legende die Loire. Die Geschichte spricht auch davon, was die hier lebenden Menschen wissen: Anders als die sanftere Madame in Paris kann sie wild, zügellos, ungestüm sein und mit ihren ausufernden Fluten ziemlichen Schaden anrichten.
Auch der Cher ist mitunter temperamentvoll, doch an diesem Tag plätschert er nur munter vor sich hin und gibt wie ein Plaudertäschchen seine Geschichten preis. Zu erzählen hat er viel. Sechs Jahrhunderte lang hat er die Schicksale der Bewohner des Schlosses aufgenommen: Das von König Henri II., der an seine Herzensdame Diane de Poitiers schrieb: „Ich kann ohne Sie nicht leben“, und ihr Chenonceau schenkte. Seine Frau Catherine de Médicis wohnte ebenfalls hier. Die Situation war gelinde gesagt delikat, und nach dem Tod des Königs musste Dame Diane umgehend das Schloss aufgeben. Jenes von Louise de Lorraine, die zwölf Jahre lang um ihren Mann, Henri III., trauerte. Tag für Tag dachte sie an ihn. Jenes von Louise Dupin, die den Philosophen der Aufklärung Jean-Jacques Rousseau einlud und das Haus vor den Bilderstürmern der Revolution rettete. Im 20. Jahrhundert übernahm die Industriellenfamilie Menier Chenonceau und rettete über die gedeckte Galerie Juden, die vor den Nazis flüchteten, denn ein Flügel des Schlosses befand sich in der besetzten und der andere in der freien Zone Frankreichs.
Heute knistert für die Gäste ein freundliches Feuer in den Kaminen, und Floristen kreieren für jeden Raum in der hofeigenen Blumenbinderei fantasievolle Bouquets. Allen Besitzern gemeinsam ist, dass sie Chenonceau mit Gespür und Achtung ausbauten, verschönerten, restaurierten und sich dem Haus treu verbunden fühlten. Die Mauern scheinen das aufgesogen zu haben. Wenn auch jedes Jahr eine Million Besucher treppauf und treppab die eleganten Zimmer besichtigt, so gibt das Schloss doch jedem Einzelnen ein Geschenk mit. Es ist in Sehnsucht eingewickelt. Wer es auspackt, muss zurückkommen. Immer wieder.