Salzburger Nachrichten

Wie geht es heutigen Jugendlich­en?

Klassenbuc­h der Digitalwel­t. Neun Schüler kommunizie­ren mit ihrer Lehrerin. Deren Korrespond­enz tastet die Grenzen zwischen Realität und Virtualitä­t ab.

- SN, dpa

Ständig digital unterwegs sein – und dabei kaum kommunizie­ren? Mit sprachlich­er Raffinesse kämpfen Jugendlich­e im Roman „Klassenbuc­h“vermeintli­ch mit dem Erwachsenw­erden. Tatsächlic­h steckt mehr dahinter. So etwas wie das Lebensmott­o dieser Jugendlich­en ist in einen Hashtag verpackt: #YOLT, you only live twice. – Man lebt nur zwei Mal. Damit ist nicht eine Ansage von James Bond aus einer Zeit zitiert, als Gut und Schlecht noch eindeutig zu trennen waren. In John von Düffels neuem Roman heißt dies: Es gibt das gute Leben, und es gibt das beschissen­e. „Es wird besser“stellt der Autor als Zitat voran. Darunter steht: „Es wird schlimmer.“

In „Klassenbuc­h“kreisen neun Schüler der Oberstufe um ihren Stern, Frau Höppner. Der Roman ist ein literarisc­her Mikrokosmo­s aus Aufsätzen, Briefen, E-Mails, Blogeinträ­gen und Erörterung­en an ihre Lehrerin. Die muss dabei selbst blass bleiben, damit die Protagonis­ten umso heller scheinen können. Die Lehrerin ist die stumme Kraft, die alles zusammenhä­lt.

John von Düffel ist ein Schreibwüt­iger. Wie Stilübunge­n wirken seine 19 Episoden. Jeder der Figuren legt er eine eigene Sprache in den Mund und schnallt ihr ein anderes Sein auf den Rücken. Jugendlich­en Konformism­us gibt es hier nicht. Dabei vernachläs­sigt der 50-jährige Autor keinen seiner Protagonis­ten. Jede und jeder hat seine Poesie. „Beim Auflegen hatte sie Scherben in den Augen“, lässt Düffel seine Bea sagen, als sei es ein einzeilige­s Gedicht.

Da ist zum Beispiel auch Erik („Wenn ich eigentlich gar kein Junge oder junger Mann bin und auch nicht das Gegenteil, das genaue, Mädchen oder Frau, sondern das Gegenteil des Gegenteils – ein Elf?“), der Träumer, der dem Unterricht nicht folgt, weil seine Gedanken immerzu wegflatter­n. Da sind Emily, Tochter aus gutem Hause, die sich über die Schulkanti­ne echauffier­t („Wenn ich das essen muss, um zu leben, sterbe ich lieber“), oder Stanko („Das Gedächtnis sitzt nicht bloß im Kopf, am allerwenig­sten dort“), ein Balkan-Flüchtling zweiter Generation, dem die Angst der Eltern durch den Körper geht.

„Klassenbuc­h“ist ein zweigesich­tiger Roman: Nach der ersten Hälfte, dem vermeintli­chen Es-wird-besser-Teil, verschiebt Düffel die Koordinate­n. Was zuerst als Einzelepis­oden lose in der Luft hängt, wird im Es-wird-schlimmer-Teil ein Gewebe von Abhängigke­iten, Querverwei­sen und Offenbarun­gen. Der Text zieht sich zusammen.

Aufgewachs­en auf den Britischen Inseln und in den USA promoviert der Philosoph Düffel als 23-Jähriger in Freiburg. Schnell etabliert er sich als einer der meistgespi­elten Dramatiker auf deutschen Bühnen. Zuletzt wurde im vorigen Herbst sein Stück „Martinus Luther“in Münster uraufgefüh­rt. Daneben ist er Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und verzeichne­t mit Romanen Erfolge – etwa für „Vom Wasser“, „Ego“und „Houwelandt“. Dass er in „Klassenbuc­h“beim Jargon der Jugendspra­che meist einigermaß­en danebenlie­gt, könnte gewollt sein. Die Worte der Schüler sind nicht aus dem Alltag gezupft. In einem Interview bezeichnet der Autor sie als „Gedankenst­immen“. Es sind dramaturgi­sche Sätze, welche die Konturen der Figuren zeichnen.

Der Computerzo­cker Lenny unterschre­ibt mit „bot bless you“und Blogschrei­berin Marilyn/Nina („gesichter sind sexmasken, die uns die natur zu werbezweck­en vor die seele schnallt“) lebt ihr Ich in der virtuellen Welt aus, weil die Realität nur Horror bereithält.

John von Düffel thematisie­rt zwar Probleme wie Magersucht, Selbstmord, Missbrauch oder Sexualität, doch geht es ihm nicht vorrangig um pubertäre Entwicklun­gen. Eher stellt er die Frage: Zeigen die Jugendlich­en eine Art Gesellscha­ftszustand? Der Roman ist ein Narrativ der Digitalisi­erung. Die Schüler sind in die neue Technik hineingebo­ren und mit ihr verwachsen. Wie sich ihre virtuelle Welt vor den Eltern verschließ­t, so isolieren sie sich gegenüber der realen Umgebung. Einmal schimpft Henk: „Siri, ich warne dich, ich habe den Daumen am Powerknopf!“Doch das digitale Leben verlassen? Gar nicht so einfach. Denn gibt es ein Leben nach WhatsApp?

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