Suche nach neuen Mehrheiten
Bundeskanzler Kern lädt nicht nur den neuen ÖVP-Chef Sebastian Kurz, sondern auch die anderen Parteichefs zum Spitzengespräch.
Wer mit wem? Statt einer Regierungssitzung findet heute, Dienstag, ein Spitzengespräch von Vertretern der sechs Nationalratsfraktionen statt. Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) will dabei vor allem ausloten, ob sich für einige der geplanten Verfassungsgesetze die notwendige Zweidrittelmehrheit abzeichnet.
Daneben ist nicht ausgeschlossen, dass sich die SPÖ für einige der von ihr gewünschten Gesetzesmaterien, die von der ÖVP abgelehnt werden, die Unterstützung der Opposition holt. Vor allem zwei Reformen sind es, bei denen SPÖ und ÖVP auf keinen grünen Zweig gekommen sind.
Eine davon ist die Abschaffung der kalten Progression: Beide Regierungsparteien (und auch die Oppositionsparteien) wollen diese Form der Steuererhöhung abschaffen. Strittig ist das Wie.
Das ÖVP-Modell sieht vor, dass die Steuerstufen 1 und 2 (also Einkommensteile zwischen 11.000 und 18.000 Euro) automatisch an die Inflation angepasst werden, wenn diese fünf Prozent übersteigt. Die Grenzbeträge für die Tarifstufen 3 bis 6 (Einkommensteile über 18.000 Euro sollen „im Ausmaß von mindestens 80 Prozent bis maximal 100 Prozent gemäß der Inflation auf Basis des Progressionsberichts“angepasst werden. Das bedeutet: Die 80prozentige Entlastung soll es nach den Wünschen der ÖVP auf jeden Fall geben, eine darüber hinausgehende Entlastung nur dann, wenn ein Expertenbericht dies empfiehlt.
Und was will die SPÖ? Eine automatische Inflationsanpassung bis in die dritte Tarifstufe, sodass jene, die bis zu 5800 Euro brutto monatlich verdienen, den automatischen Inflationsausgleich erhalten. Damit wäre das Thema kalte Progression laut SPÖ zu 90 Prozent erledigt. Die restlichen zehn Prozent sollen nach den Wünschen der SPÖ auch jenen zugute kommen, die weniger als 11.000 Euro im Jahr verdienen und daher keine Steuern zahlen. Dies ist der Knackpunkt zwischen SPÖ und ÖVP. Denn die ÖVP steht auf dem Standpunkt, dass der Inflationsausgleich bei der Steuer nur Steuerzahlern zugute kommen kann. Eine Entlastung der Schlechtverdiener solle nicht über die Steuerpolitik, sondern über Transferleistungen erfolgen.
Und was steht zu diesem Thema im Regierungspakt von Anfang Februar? Dieser gibt der ÖVP recht. Deren Modell stützt sich auf das Kapitel 1.3., „Kalte Progression“, wo von einer Negativsteuer für jene, die keine Steuern zahlen, keine Rede ist.
Der steuerliche Ausfall, der mit dem Ende der kalten Progression auf die Staatskassen zukäme, ist erheblich. Allein im ersten Jahr müsste der Finanzminister auf 1,1 Mrd. Euro an Einnahmen verzichten.
Ein zweiter Streitpunkt, bei dem die SPÖ die Unterstützung der Oppositionsfraktionen suchen könnte, ist die Gewerbeordnung. Ein seit Langem zwischen SPÖ und ÖVP ausverhandelter Kompromiss ist vergangenen Mittwoch überraschend von der Tagesordnung des Nationalrats abgesetzt worden. Die SPÖ versucht neuerlich, einen einheitlichen Gewerbeschein für freie Gewerbe durchzubekommen. Dies ist insofern verwunderlich, als zuletzt auch Arbeiterkammer und Gewerkschaft gegen einen einheitlichen Gewerbeschein mobilisiert hatten.