Erdo˘gans dezimierte Armee
Seit der Staatschef wegen des Putschversuchs hart durchgreift, klaffen in der türkischen Armee große Lücken. Soldaten, die nachrücken, sprechen oft kein Englisch, beklagt die NATO.
ANKARA. Seit Montag stehen in Ankara 209 türkische Soldaten vor Gericht. Den Angeklagten, unter ihnen 24 Generäle und weitere 84 ranghohe Offiziere, wird vorgeworfen, an dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 beteiligt gewesen zu sein. Zwölf Angeklagte fehlen – sie sind auf der Flucht. Wie jene beiden türkischen Generäle, die Mitte Mai, aus Griechenland kommend, am Frankfurter Flughafen Asyl beantragt haben.
Seit dem Putschversuch greift Staatschef Recep Tayyip Erdoğan bei den türkischen Streitkräften durch. Nach Recherchen der Internetseite Turkey Purge, die Erdoğans „Säuberungen“dokumentiert, wurden rund 10.000 Soldaten und 16.400 Offiziersanwärter entlassen. Unter den Gefeuerten sind fast 150 Generäle und Admiräle, fast ein Drittel des türkischen Generalstabs.
Die Entlassungen trafen nicht nur Soldaten, die unmittelbar an der Planung und Ausführung des Umsturzes beteiligt waren, sondern auch Tausende, denen Verbindungen zu Erdoğans Erzfeind Fethullah Gülen nachgesagt werden. Der Exilprediger steuert aus dem US-Bundesstaat Pennsylvania ein weltweites Netz von Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Medien. Erdoğan sieht in Gülen den Drahtzieher des Putschversuchs.
Unter den Entlassenen sind viele im Ausland stationierte Offiziere. Oft reichte es schon für eine Abberufung, wenn Kinder einer Soldatenfamilie im Ausland eine Schule besuchten, die dem Gülen-Netzwerk zugerechnet wird. Weil sie in der Türkei Verfolgung fürchten, blieben viele der zurückbeorderten Soldaten im Ausland. Mindestens acht Generäle und 260 Offiziere niedrigerer Ränge seien derzeit auf der Flucht, heißt es in türkischen Medien. Allein in Deutschland haben bis Anfang Mai nach Angaben des Bundesinnenministeriums 414 türkische Soldaten, Diplomaten, Richter und andere Staatsbeamte Asylanträge gestellt.
Von Erdoğans „Säuberungen“ist auch die NATO betroffen. Die Türkei hat seit dem Putschversuch rund 150 zum Teil sehr erfahrene Offiziere aus den Allianz-Hauptquartieren abgezogen. Das entspricht etwa der Hälfte des rund 300 Mann starken türkischen Offizierskontingents bei der NATO. Die Posten wurden zwar inzwischen teils neu besetzt, aber viele der Nachrücker hätten erhebliche Defizite in der englischen Sprache, heißt es in Kreisen der Allianz. Es fehle oft auch an Basiswissen über die NATO und Sicherheitsfragen. Experten des Bündnisses äußern Besorgnis. Es gebe „Zweifel an den operationellen Fähigkeiten der türkischen Streitkräfte“, wurden vergangenen Monat ranghohe NATO -Diplomaten zitiert. So hätten sich beim Einsatz der türkischen Armee gegen die IS-Terrormiliz im Norden Syriens „bemerkenswerte Schwierigkeiten“gezeigt. Verteidigungsminister Fikri Işik weist das zurück. Die türkischen Streitkräfte hätten ohnehin zu viele Generäle und Admiräle gehabt, sagt er. Tatsächlich suchen die Streitkräfte händeringend Personal. Das Verteidigungsministerium wolle fast 20.000 Soldaten und 5000 Offiziere neu einstellen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.