Salzburger Nachrichten

Warum die Klagemauer so heilig ist

Juden und Muslime beanspruch­en ihre jeweils wichtigste­n Stätten. Das Problem ist, dass sie am selben Ort sind.

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Die Klagemauer in Jerusalems Altstadt, die vor 2000 Jahren als Stützmauer eines riesigen Areals rund um den zweiten jüdischen Tempel diente, ist Israels meistbesuc­hter Ort. So scheint es nur selbstvers­tändlich zu sein, dass auch US-Präsident Donald Trump die riesigen Steinquade­r persönlich in Augenschei­n nimmt.

Doch Trump ist der erste amtierende US-Präsident, der dieser Stätte einen Besuch abstattet. Denn keine Frage ist im Verhältnis zwischen Juden und Muslimen heftiger umstritten als die Herrschaft über die bloß einen Quadratkil­ometer große Altstadt Jerusalems. Und dort wiederum ist keine Stätte heikler als der Tempelberg und die Klagemauer, die ihn im Westen abstützt. Nirgends sind Religion und Politik, Identität und Nationalst­olz enger miteinande­r verwoben; und mitten in dieses Wespennest tritt Donald Trump.

Der biblische König Salomon errichtete nämlich hier vor 3000 Jahren den ersten Tempel. Nachdem der Tempel im Jahr 70 n. Chr. zerstört worden war, untersagte­n es die Rabbiner, den Berg zu betreten, weil er zu heilig ist. Daher dient dessen Stützmauer als Ersatz, weil sie den heiligen Stätten oben am nächsten ist. Die Anhänger der nationalen Befreiungs­bewegung der Juden Ende des 19. Jahrhunder­ts nannten sich Zionisten: Zion ist einer der Namen Jerusalems, das Volk sollte zu den historisch­en Wurzeln zurückkehr­en. Nur hatte sich in der Zwischenze­it ein anderer Glaube an diesem Ort etabliert. 638 n. Chr. eroberten die Muslime Jerusalem. Kurz darauf errichtete­n sie auf dem Tempelberg, den sie Haram-alScharif nennen, das älteste muslimisch­e Sakralbauw­erk der Welt – den Felsendom – und die Al-AksaMosche­e. Diese gilt als einer der heiligsten Orte im Islam.

Israelis und Palästinen­ser wollen diesen Ort beherrsche­n, sie würden keiner Friedenslö­sung zustimmen, die ihnen nicht die Souveränit­ät über diesen Hügel zuspricht. Die religiöse Bedeutung wird zum diplomatis­chen Kernpunkt.

Während Israels Unabhängig­keitskrieg 1948 eroberte Jordanien den Ostteil Jerusalems einschließ­lich Altstadt und Klagemauer. Alle Synagogen wurden gesprengt, Juden blieb bis 1967 der Zutritt zur Klagemauer verwehrt. Doch im Sechs-Tage-Krieg annektiert­e Israel damals die Altstadt – ein Schritt, den die Welt bisher nicht anerkannt hat. Die Klagemauer gilt allen außer Israel deshalb als besetztes Gebiet, dessen endgültige­r Status noch ausgehande­lt werden muss.

Genau deswegen besuchte bislang kein US-Präsident diesen Ort. Eine Visite in Begleitung von Vertretern einer Seite könnte nämlich ein Verhandlun­gsergebnis vorwegnehm­en. Dies betonten auch Trumps Berater, als die Israelis sich anboten, den US-Präsidente­n zur Klagemauer zu begleiten: „Was habt ihr dort zu suchen? Das gehört nicht zu Israel“, soll ein Berater Trumps gesagt haben. Für Israels Premiermin­ister Benjamin Netanjahu war das ein Schlag tief unter die historisch­e Gürtellini­e.

Letztlich wurde ein Kompromiss gefunden: Der Besuch der Klagemauer gehörte nicht zum offizielle­n Besuchspro­gramm Trumps und stand nicht im Zeitplan, der Journalist­en ausgehändi­gt wurde. Er war Privatprog­ramm des Präsidente­n, seiner jüdischen Tochter Ivanka und ihres jüdischen Ehemanns Jared Kushner.

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