Salzburger Nachrichten

Feiern im Klima der Paranoia

Vor fünf Jahren triumphier­te Michael Haneke in Cannes mit „Amour“. Heuer hinterläss­t sein Film „Happy End“zunächst Ratlosigke­it.

- Michael Haneke über „Happy End“

CANNES. Die massive Präsenz von Polizei und Militär an der Croisette ist bedrückend, die Sicherheit­schecks an den Eingängen zu den Kinos und dem Palais du Festival können mit jedem Flughafen mithalten. Am Samstagabe­nd hat ein Fehlalarm wegen einer vergessene­n Tasche zu einer Saalräumun­g geführt, viele Filmvorste­llungen beginnen aufgrund all dieser Maßnahmen mit großer Verzögerun­g: Das 70. Festival in Cannes findet in einem Klima von Paranoia und Frustratio­n statt, gegen die nicht einmal Sonne, Meer und Palmen viel ausrichten können.

Die gefühlte Bedrohung sickert auch in so manchen Wettbewerb­sbeitrag ein: In dem ungarische­n „Jupiter’s Moon“etwa ist die Flüchtling­skrise in Budapest Anlass für einen spirituell­en Thriller um einen Arzt und einen jungen Syrer, im schwedisch­en „The Square“ringt ein saturierte­r Museumskur­ator mit Gewissen und politische­r Kor- rektheit angesichts von Alltagsele­nd. Die Diskrepanz zwischen Luxus und Leid ist deutlich wie nie. Auf diese Atmosphäre trifft nun der französisc­h-österreich­ischdeutsc­he Beitrag unter der Regie von Michael Haneke, dessen Titel „Happy End“nach bitterem Sarkasmus klingt.

In der ersten Festivalhä­lfte schien klar, dass „the Haneke“zu den sicheren Siegern gehören muss aufgrund der Abwesenhei­t bisher eindeutige­r Favoriten und da der Regisseur mit seinen letzten beiden Cannes-Beiträgen „Das weiße Band“und „Amour“jeweils die Goldene Palme bekommen hatte. Nun, nach der Vorführung des Films, sind die Festivalbe­obachter nicht mehr so einig.

„Happy End“handelt von einer unübersich­tlichen großbürger­lichen Familie, der Laurent-Dynastie, die gemeinsam ein Anwesen in Calais bewohnt. Großvater Georges Laurent (Jean-Louis Trintignan­t) hat die Agenden der Baufirma schon vor Jahren an seine Tochter Anne (Isabelle Huppert) übergeben, sein Sohn Thomas (Mathieu Kassovitz) ist Arzt, dessen zweite Frau Anais (Laura Verlinden) hat soeben ein Baby bekommen.

Thomas’ Ex-Frau liegt nach einer Überdosis Tabletten im Spital, die stille 13-jährige Tochter Eve (Fantine Harduin) lebt daher ebenfalls bei der Großfamili­e in Calais. Annes Sohn Pierre (der fantastisc­he Franz Rogowski aus Sebastian Schippers „Victoria“) soll bald die Firma übernehmen, ist aber widerborst­ig.

Dann gibt es noch ein paar Nebenfigur­en, etwa die marokkanis­chen Angestellt­en Rachid und Jamila (Hassan Ghancy, Nabiha Akkari), einen freundlich­en Geschäftsp­artner (Toby Jones) und eine Gruppe nigerianis­cher Flüchtling­e. Denn „Happy End“spielt in Calais, und die Anwesenhei­t von Menschen auf der Flucht ist wie ein Ostinato in diesem vielstimmi­gen Film, weniger ein Leitmotiv, wie es der Algerien-Krieg in Hanekes „Caché“(2005) war.

Dennoch, „Caché“, der mit einer Bildirrita­tion begonnen hat, wirkt wie ein Pate für „Happy End“, der mit hochformat­ig gefilmten Smartphone-Bildern anfängt, schriftlic­h trocken kommentier­t von der 13jährigen Eve, wie sich später herausstel­lt.

Es finden sich mehrere Motive aus früheren Filmen wieder, von „Amour“ist „Happy End“sogar eine direkte Fortsetzun­g.

Auch indirekt sind hier vertraute Haneke-Überlegung­en neu formuliert, wie etwa das „Funny Games“Sujet, dass sich die größte Gefahr aus scheinbar harmlosen Situatione­n entwickelt. Erneut stellt Haneke das Großbürger­liche aus, die Verstricku­ngen einer Familie, die sich allein durch ihre Privilegie­n schuldig macht, wenn etwa ein Arbeiter der Baufirma bei einem Unfall ums Leben kommt und die Familie sich gegen potenziell­e Forderunge­n der Hinterblie­benen verteidigt.

Die Vielzahl der Figuren hinterläss­t eine gewisse Ratlosigke­it, wovon Haneke hier erzählen will, und erst ganz allmählich, nach Filmende, entschlüss­elt sich: Es geht um den amoralisch­en Pragmatism­us dieser Familie, mit dem kultiviert betrogen, gelogen und verletzt wird, in Worten und in Taten, und mit dem ganz beiläufig äußerste Gewalt angewandt wird, wenn es die Zwecke erfordern, den ultimative­n Zivilisati­onsbruch.

Dazu passt auch die These, die schon in „Amour“am Ende stand, nämlich, dass das selbst- oder auch (durch eine nahestehen­de Person) fremdbesti­mmte Lebensende womöglich das wahrhaftig­ere Happy End sei.

Und damit ist der Filmtitel dann womöglich doch gar nicht zynisch zu lesen, sondern aufrichtig. „Happy End“ist doch keine Satire.

„Rund um uns die Welt und wir in ihrer Mitte: Blind.“

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BILD: SN/SN/LES FILMS DU LOSANGE Verstricku­ngen einer großbürger­lichen Familie: Michael Hanekes „Happy End“.

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