Die radikale Sichtweise gefiel nicht allen
KARL HARB
Die Aufführung beginnt mit einem überwältigenden, verstörenden Bild. Während der Ouverture formieren sich zwei Dutzend Bogenschützinnen zu einem archaischen Ballett mit Pfeil und Bogen und schießen ihre Munition auf ein im Kreisrund projiziertes Auge. Nach und nach entsteht auf der weißen Fläche ein feines grafisches Muster, eine Zeichnung, die Gewalt und Schönheit zu einem poetischen Symbol verdichtet.
Romeo Castellucci, dem Regisseur, präziser: dem Theaterdenker und Bilderdichter, gelingen im Verlauf der weiteren fünf Stunden immer wieder solche Szenen. Nicht alle sind von gleicher Stringenz und Dichte, manches, vor allem das Finale des Sängerkriegs im 2. Akt, gefriert zu reiner, nichtssagender, sich dadurch auch aller Deutung entziehender Statik. Aber wie, beispielsweise, die engelsgleiche Elisabeth Tannhäuser in der „teuren Halle“erwartet, wird wieder zu einem großartigen Moment.
Leichte weiße Vorhänge bilden den Raum aus, schweben durch ihn, suggerieren Schwerelosigkeit. Auf der Bühne steht nur die Schablone einer Frauenfigur. Durch diese hat Tannhäuser am Anfang die Lustwelt der Venus betreten. Er stieg buchstäblich ins Eingeweide der fleischlichen Begierde, hier amorphe Körpermassen, über denen Venus wie eine giftige Spinne thront. Jetzt steht die Silhouette wie eine hohle Form da, der sich das FrauenGegenbild, Elisabeth, wie einem Schatten nähert. So singt Anja Harteros, wieder einmal eine unfassbar schöne, stimmlich kostbar glänzende, herrlich sich mit ihrem Sopran verströmende Erscheinung, ihre jubelnden Töne: fast bewegungslos.
Romeo Castellucci spannt in den künstlerischen Installationen, die er in der Bayerischen Staatsoper für Wagners heterogenste Oper, sein nie wirklich vollendetes Schmerzenskind, anstelle einer „Operninszenierung“erfunden hat, die großen Themen zu einem rätselhaften, mit Körperskulpturen artikulierten, auch Kitsch nicht scheuenden, aber letztlich konsistenten Bilderkosmos zusammen: Kunst und Kampf, Lust und Entsagung, Liebe und Tod.
Im dunklen Raum am Ende keimt kein Grün, das dem Verfluchten Erlösung bringen könnte. Von der Todessekunde an bis in „Milliarden Milliarden Jahren“– wie ein Schriftzug die vergehende Zeit ins Wort fasst – setzt sich der Prozess der Verwesung als unausweichliche Konsequenz des Lebens fort. Kein „Abendstern“des dichtenden Wolfram von Eschenbach, keine (er-) läuternde Rom-Erzählung des Rebellen Tannhäuser, keine Erlösung durch die wie versteinerte Retterin Elisabeth hilft. Vereinigung gelingt nur im letzten Zerfallsmoment, Staub zu Staub.
Die gnadenlose Radikalität dieser Sichtweise, die sich jeglicher „Handlung“noch gar einer Erzählung, was in „Tannhäuser“geschieht, verweigert, rief wütende Proteste des Premierenpublikums hervor. Aber: Auch wenn man sich nicht auf die denkerischen Wege Castelluccis begeben mag – die Suggestion vieler Bilder bleibt.
In ihnen sind die Sänger denn auch hauptsächlich „konzertierende“Figuren außerhalb allen konventionellen „Ausdrucks“oder, im Falle des großartigen Chors, bloß kollektive Bildträger. Aber welche Stimmen sind da versammelt! Von Anja Harteros war schon die Rede, Christian Gerhaher als Wolfram ist ohnedies unübertrefflich in seiner stilistischen Kompetenz und sängerisch auf den Punkt fokussierten (lied-)lyrischen Präzision. Georg Zeppenfeld gibt dem Landgraf Hermann geerdete und zugleich sorgsam „überhöhte“Bassautorität. Elena Pankratova orgelt ihre Venus mezzoflutend mit etwas stoischer Kraft. Klaus Florian Vogt schließlich ist anfangs mit der auch unsicher geführten Hellstimmigkeit seines Tenors gewöhnungsbedürftig als Tannhäuser, gewinnt aber nach und nach Statur bis in die meisterhaft differenzierte Rom-Erzählung.
Gerade in diesen späten, immer heiklen Momenten, in denen Kraft und Leichtigkeit sich paaren müssen, zeigt Kirill Petrenko sein Können als aufmerksamster Sängerbegleiter. Sein Klangsinn: wieder einmal mirakulös. Seine Disposition: ein sinnlich-logisches Ereignis. Die Spannkraft seiner Gestaltungsfähigkeit: grandios, wenn auch oft gefährlich langsam im Tempo.
Was Petrenko aus der Partitur (in der letztgültigen „Wiener Fassung“von 1875 und also im Detail oft anders) liest und hört, ist ein Abenteuer eigener Art. Sein Orchester erfüllt ihm jeden kleinsten Wunsch: atemberaubend. Und doch: Zuweilen verbeißt sich Petrenko in zu viele Details, will immer noch Genaueres – und scheint so selbst noch auf der Suche nach seinem „Tannhäuser“-Ideal. Gleichwohl: An seine Dirigierkunst kommt heute kaum ein anderer, schon gar nicht in seiner Generation, heran. Die Ovationen für ihn waren ohrenbetäubend. Oper: