„Volkstribune haben ein Ablaufdatum“
Nichts ist schwieriger als die Liebe zu sich selbst. Besonders Menschen, die als Kinder nur für Leistung belohnt wurden, tun sich schwer – und geben ihre Autonomie an autoritäre Führer ab. Folgt die Enttäuschung auf dem Fuß?
SN-Gespräch mit dem Psychiater Michael Lehofer über die mangelnde Verbundenheit mit sich selbst. SN: Es heißt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Kommt dabei der zweite Teil zu kurz?
Lehofer: Wer sich selbst nicht liebt, kann auch den anderen nicht lieben, weil er die Neigung hat, den anderen auszubeuten und ihn dafür zu gebrauchen, was er selbst existenziell benötigt. Daher ist die Liebe zu sich selbst die Voraussetzung für die Liebe zu anderen.
Das steht auch nicht im Widerspruch dazu, dass es heute viele Narzissten gibt. Denn der Narzissmus ist bei näherem Hinsehen ein Mangel an Selbstliebe. Der Narzisst braucht seine bizarre Inszenierung, dass er unglaublich zauberhaft sei, und er nimmt die Umgebung in Geiselhaft, dass sie ihn auch so bewundern muss. So kommt er zu dem, was er selbst nicht hat. Ein Mensch, der sich selbst liebt, hat es nicht nötig, sich derart zu inszenieren, um Bewunderung zu erheischen. SN: Einen Grund für mangelnde Selbstliebe sehen Sie in der Erziehung. Was läuft falsch? Erziehung ist ein Kommunikationsakt. In jeder Kommunikation geht es um Individualität versus Anpassung. Wir wollen uns individuell durchsetzen, Selbstwirksamkeit erreichen. Auf der anderen Seite versucht die Umgebung, uns zur Anpassung zu motivieren. Das kann durchaus auch in unserem Sinne sein. Anpassung kann zur Selbstentfremdung führen. Wir solidarisieren uns mit dem Entfremdenden, weil wir auf das hoffen, was es verheißt. Wir neigen in diesem ganzen Prozess zur Selbstkorruption. SN: Wir laufen dem nach, was etwas verheißt oder Lob bringt? Viele Leistungsmenschen stammen aus Familien, in denen sie zu wenig bedingungslose Liebe erfahren haben und das Kind die Idee entwickelt hat: Wenn ich nur genügend leiste, bekomme ich Liebe. Dieser Liebe laufen solche Menschen dann unbewusst ein ganzes Leben lang nach. Das ist ein solcher verfehlter Sozialisationsprozess. Denn durch Leistung kann man nur Lob erheischen. Liebe ist etwas anderes als positive Bewertung. Liebe ist die bedingungslose Verbundenheit, das Erleben, dass in der Beziehung von vornherein und bedingungslos alles erfüllt ist – unabhängig davon, was wir uns erfüllen müssen, damit wir es miteinander aushalten. SN: Wie kann eine solche Leistungsorientierung im späteren Leben korrigiert werden? Indem man beginnt, sich selbst nicht immer nur unter dem Aspekt von Bedingungen zu betrachten, sondern sich bedingungslos zu bejahen. Das heißt nicht, dass wir uns nicht weiter entwickeln können. Aber es ist eine grundsätzlich positive Bejahung vorhanden.
Wir tun viel, was uns aus der Verbundenheit mit uns selbst ablenkt und wegführt. Zur Selbstliebe kommt, wer das sein lässt. Übersetzt Michael Lehofer, Psychiater, Graz auf eine Paarbeziehung: Wenn Sie Verbundenheit mit Ihrer Frau erleben, aber gleichzeitig ein blühendes Sozialleben führen, das Ihnen Zeit und Raum nimmt, die Verbundenheit mit Ihrer Frau tatsächlich zu erleben, werden Sie sich von ihr entfremden. Das muss man weglassen. Im konkreten Fall hieße das etwas weniger Sozialleben. SN: Sie haben dafür 28 Empfehlungen. Wo fange ich an? Meine Empfehlungen fügen sich ineinander. Ich will damit nur einen Eindruck vermitteln, was es bedeuten könnte, sich selbst nahe zu sein und zu bleiben. SN: Was ist die Angst vor der Begegnung mit sich selbst? Wovor schrecken wir zurück? Es ist die Angst, dass wir vielleicht entdecken würden, dass wir unser Leben nicht nach dem ausrichten, was ich als unsere innere Stimme bezeichnen würde. Es ist quasi die Angst vor meiner Berufung, die ich spüre, wenn ich mir nahe bin. Dass ich mich nicht selbst definieren kann, sondern dass mich das definiert, was ich von innen her in mir höre. Es ist die Angst davor, dass ich meine Autonomie aufgeben muss, wenn ich auf diese innere Stimme höre und ihr folge.
Aber darauf zu hören und dadurch mit sich selbst verbunden zu sein ist die größte Autonomie, die ein Mensch haben kann. SN: Die innere Stimme sagt: So wie du lebst, das ist es nicht? Richtig, und das lässt uns flüchten. Denn Liebe ist ein anarchisches Empfinden. Sie schert sich nicht darum, was unsere Gefühle wollen. Wenn ich den Weg des Herzens gehe oder die Ordnung der Liebe beachte, kann das Konsequenzen haben, die nicht mit meinen Gefühlen einhergehen. Intuition ist eine solche Erfahrung. Intuitiv handeln kann heißen: Es spricht zwar alles dagegen, aber ich mache das, weil es mir stimmig vorkommt. SN: Sind wir da bei Ihrem Begriff der artgerechten Selbsthaltung? Wenn wir dieser Stimme des Herzens folgen, halten wir uns artgerecht. Der Konstruktivist Ernst von Glasersfeld hat das so formuliert: Ich danke meinen Eltern, dass sie mich nie unterstützt haben in dem, was ich wollte, sondern immer in dem, was mich gefreut hat. Die aufkommenden autoritär wirkenden Persönlichkeiten – von Orbán über Erdoğan bis Trump – sind Menschen, die gegen die Eliten ankämpfen, obwohl sie ein Teil von ihnen sind. Die Frage ist also: Was stört uns an den Eliten, ungeachtet dessen, ob es denen besser oder schlechter geht als uns? Da meine ich, es stört uns, dass die Eliten als abgehoben erlebt werden und man das unangenehme Empfinden hat, dass sie Handlungen setzen, die nicht in Verbindung mit einem selbst sind. Man hat das Gefühl, es wird über mich bestimmt. Die autoritären Volkstribune vermitteln dagegen den Eindruck: Ich bin einer von euch, ich bin mit euch verbunden, ich handle in eurem Sinne.
Menschen, die selbst keinen positiven Selbstwert haben, projizieren alle ihre Ja, die sie sich selbst wünschen, in einen solchen Volkstribun hinein. Sie reagieren infantil und vertrauen ihre Souveränität einem anderen an. Dadurch bekommt der Tribun die Macht, andere zu unterdrücken – so lang, bis die Idealisierung in Entzauberung und Enttäuschung kippt, die dann in Hass umschlagen. Volkstribune haben alle ein Ablaufdatum. Selten erlebt einer seinen Tod an der Macht. SN: Durchschaut sie das Volk? Die Realpolitik führt dazu, dass die Verheißungen der Verbundenheit nicht erfüllt werden. Die Abgehobenheit der Politstars nimmt in der Regel immer mehr zu, weil ein Mensch – von seltenen Ausnahmen abgesehen – so viel Ja von anderen gar nicht aushält. Die vielen Ja der anderen tragen ihn fort. Jeder von uns kennt die Beispiele. SN: Warum ist das Sehnen nach Autorität derzeit so stark? Der Erfolg eines Politikers hängt davon ab, ob es ihm gelingt, Verbundenheit mit denen, die er regieren soll, zu vermitteln. Nach dem Krieg gab es eine Aufbauphase mit viel Veränderung. Aber dann kam die Zeit, wo viele Menschen vieles erreicht hatten. Daraus entstand ein Konservativismus, in dem jeder auf seine Pfründe schaut. Daher sind Reformen auch in Österreich so schwierig. Und daher sind Politiker so beliebt, die sagen: Wie ihr lebt, was ihr erreicht habt, ist richtig.
„Der Stimme des Herzens folgen“